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Vintage Industrial Style

Das im Frühjahr 2015 erschienene Buch „VINTAGE INDUSTRIAL STYLE – Loftiges Wohnen mit Design-Ikonen und Flohmarktfunden“ von Misha de Potestad, einer französischen Journalistin und Stylistin, die seit vierzig Jahren über Themen der Inneneinrichtung und des Designs in französischen Magazinen berichtet, und dem Fotografen Patrice Pascal, zeigt die vielfältigen Möglichkeiten bei der Wiederbelebung bzw. Umwidmung historischer Arbeitsmittel und Fabrikausstattungen in trendigen Interieurs. Es verdeutlicht mit Konstruktionszeichnungen, Patentschriften und originalen Aufnahmen die Akribie und den Aufwand, mit denen diese einstigen Gebrauchsgegenstände aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für den rauen Alltag konzipiert, individuell angepasst und sorgfältig gefertigt wurden. Darüber hinaus zeigt es beispielhaft mit Fotos von Wohnungen und Büros, mit welcher Kreativität diese schon lange ausrangierten Altertümer eine neue Bestimmung gefunden haben und durch die Autorität ihres Alters teilweise sogar zu Kultobjekten erhoben wurden. Das gebundene Buch beinhaltet ca. 200 Farbabbildungen auf 224 Seiten und ist im DVA Architektur Verlag erschienen.

Aus Alt wird Kult

Die aktuelle Nachfrage nach diesen spröden Designs voll schlichter Schönheit ist kein Zufall. Die alltäglichen Abläufe werden immer schneller, wenig ist von Bestand oder nachhaltig. Es dominiert eine „Wisch und weg!“ Mentalität, die uns in wenigen Jahren von den nun allgegenwärtigen Smartphones und Tablets anerzogen wurde. Zum Ausgleich entsteht die Sehnsucht nach Stabilem und Bleibendem, was die im Buch vorgestellten Objekte durch ihr historisches Alter und ihre robuste Gestalt verkörpern.
Exemplarisch werden Wohnsituationen im Buch dargestellt, wie etwa die schlichte Jielde Stehleuchte, ursprünglich an soliden Schreibtischen oder an schweren Maschinen montiert, hinter einem modernen weißen Sofa, vor dem wiederum zwei metallisch dunkle Nicolle-Stühle wie im Gespräch vertieft kontrastieren. Durch die sehr variablen Verstell-Möglichkeiten der Stehleuchte kann diese als ideale Lesebeleuchtung oder auch als indirektes Raumlicht dienen.
Oder zwei unterschiedlich große Holophane-Kugellampen, die am Fuße einer eindrucksvollen stählernen Wendeltreppe diese stimmungsvoll akzentuieren. Ursprünglich wurden diese Glaskörper ab den 1940er Jahren unter anderem als Fabrikdeckenleuchten oder auf Eisensockeln als Straßenlaternen größerer Städte benutzt. Die prismatische Glasstruktur verstärkt die Leuchtkraft und sorgt gleichzeitig für eine gleichmäßige Abstrahlung in alle Richtungen mit wunderbaren Lichteffekten.
In Frankreich wurden historische Reklameschriften meist aus lackiertem und gelötetem Zinkblech realisiert. Der eigenen Fantasie sind beim Zusammensetzen der alten Buchstaben zu neuen Begriffen keine Grenzen gesetzt, wie etwa bei dem aus der Kombination unterschiedlicher Typen und Größen entstandenen „Love Paris“. Oder man arrangiert sie sinnfrei als reine Dekoration, wie im Buch mit Einzelbuchstaben oder Buchstabengruppen demonstriert.

Historische Entwicklung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind zwei umwälzende Vorgänge in der Geschichte der Möblierung festzustellen. Zum einen wird mit dem Ende des Jugendstils das überflüssige Ornament bei der Inneneinrichtung weitestgehend verbannt; die modernen Stilrichtungen Art Déco und Bauhaus schaffen Schönheit aus der wohl überlegten Gestaltung, ausgehend von der Funktion ohne aufgesetzten Zierrat. Zum anderen beschäftigen sich immer mehr kühl und berechnend denkende, schnörkellose Ingenieure mit der Gestaltung der Hüllen ihrer technischen Apparate, mit denen sie den technischen Fortschritt mit hoher Schlagzahl vorantreiben. An der Schnittstelle zwischen Interieur Design und Ingenieurwesen finden sich besonders die Architekten. Als Künstler und Techniker in einer Person sind sie gefordert, neben dem Entwurf des jeweiligen Gebäudes teilweise auch funktionale Elemente wie Leuchten für dieses gleich mit zu gestalten. Einigen unter ihnen ist es dabei gelungen, Funktionalität in Kunst zu verwandeln.

Stühle, Tisch, Aufbewahrung, Leuchten, Kuriositäten

Vor der Industrialisierung wurde in Büros im Stehen geschrieben, genauso wie in Werkstätten stehend geschuftet wurde. Im Interesse einer höheren Produktivität und besseren Qualität führte man zunächst einfache Arbeitshocker ein, die nach und nach mit Rollen, Drehfunktion, Federung und Höhenverstellbarkeit erweitert sowie durch ergonomische Formen verbessert wurden, um sowohl die Arbeitsgeräte als auch die Maschinen an den Arbeiter anzupassen.
Immer weiter spezialisierte und standardisierte Tätigkeiten erforderten eine Anpassung der Büro- und Fabrikausstattung. Tische wurden nach genauer Beobachtung der Arbeitsabläufe durch die Designer so passgenau angefertigt, dass sie die Arbeiter bei den monotonen Bewegungszyklen entlasteten. Für spezielle Produktionen erforderliche Tische aus Gusseisen wurden mit Rollen leicht bewegbar. Schreibtische mit vielen Schubladen erleichterten die Verwaltung der Korrespondenz und waren oft aus lackiertem Stahl, um den Papieren einen gewissen Brandschutz zu bieten und den strapaziösen Bedingungen Stand zu halten.
Für die Archivierung der ausufernden Papierflut reichten bald die Schreibtische nicht mehr aus. Stählerne Aktenschränke und Wandregale beendeten effektiv den ‚Papierstau‘ in und auf den Schreibtischen. Zur Optimierung der Volumennutzung wurden bald bis zum kleinsten Büroartikel Standardgrößen eingeführt, wie z.B. beim Schreibpapier. Diese bestimmten dann die Dimensionen der Aufbewahrungsschränke und –regale, um ungenutzten Raum möglichst zu vermeiden. Neben den Dokumenten mussten auch die Arbeitsmaterialien magaziniert und die Handelswaren gelagert werden, was durch standardisierte Konstruktionen schnell, variabel und preiswert gelöst wurde. Werkzeugschränke, Lagerregale, verstellbare Regalsysteme, Wandschränke, Schubladen und Kleiderspinde zogen in Büros und Werkhallen ein. Über die Jahrzehnte haben sie Rost angesetzt und die eine oder andere Beule abbekommen. Nach einer mühsamen und liebevollen wie fachgerechten Restaurierung erstrahlen sie in dem metallischen Glanz, wie die im Buch abgebildeten Objekte.
Durch das EU-weite Verbot der Glühbirne im Jahr 2009 wurde die Entwicklung von Alternativen wie der LED Beleuchtung forciert. Aktuell geschieht eine massive Umorientierung, was den Umgang mit künstlichen Lichtquellen anbelangt, ähnlich den Umbrüchen, den der magische Zauber der aufkommenden elektrischen Beleuchtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewirkt hat. Auch damals waren es umtriebige Ingenieure und Erfinder, die für viele Anwendungen optimierte Leuchten schufen. Städte wurden durch Holophane-Leuchten aus Prismenglas erhellt, Schreibtische von filigranen Leuchten des Ingenieurs Bernard-Albin Gras und Werkbänke von robusten Jielde Leuchten. Zunehmend wurden die physikalischen Eigenschaften des Lichts bei der Gestaltung der Reflektoren und Lampenschirme beachtet, um effektiv, ganz nach Bedarf, gleichmäßig breit verteiltes oder lokal konzentriertes Kunstlicht zu erhalten. Die so entstandenen Leuchten überzeugen noch heute durch ihre perfekte Funktionalität und zeitlose Gestaltung.
Historische Kuriositäten wie Porzellanformen von Händen zur Herstellung von Gummihandschuhen, Laborgläser, teils noch mit römischen Ziffern beschriftete Zeitmesser, Papierhalter für Schreibkräfte, Ventilatoren, Vitrinen, Stahlgesenke und Buchstaben alter Werbebotschaften finden heute als begehrte Dekorationsobjekte ihren Platz in Wohnungen oder auch trendigen Lokalen.

Das große Verdienst der Autorin ist es, sich Zugang zu zahlreichen Fabriken, Werkstätten, Lagerhallen und besonders Wohnungen verschafft zu haben. Die dort geschickt inszenierten Interieurs wurden fotografisch gekonnt porträtiert. So zeigt sie eine beeindruckende Auswahl an Einrichtungsgegenständen, die bereits ein Leben in der Werkstatt hinter sich haben, und dem Satz des französischen Philosophen Paul Souriau, den dieser 1904 in sein Buch „La Beauté rationelle“ schrieb, genügen: „Es kann keinen Konflikt zwischen dem Schönen und dem Nützlichen geben. Ein Objekt ist schön, wenn seine Form seine Funktion zeigt.“ Die in dem Buch vorgestellten Objekte, mit ihrem am speziellen Verwendungszweck orientierten Design, stammen aus der Übergangszeit zwischen Handwerkskunst und industrieller Serienfertigung. Sie werden heute teilweise schon als eigenständige Kunstgegenstände betrachtet, mit besonderer Anerkennung der sorgfältigen Handarbeit bei ihrer Herstellung.

Misha de Potestad
Vintage Industrial Style – Loftiges Wohnen mit Design-Ikonen und Flohmarktfunden


Originaltitel: Vintage Industrial: Living With Machine Age Design, by Misha de Potestad; Photography by Patrice Pascal
Originalverlag: Rizzoli International Publications, Inc.
Aus dem Englischen von Eva Dewes
Mit Fotos von Patrice Pascal
Gebundenes Buch, Halbleinen, 224 Seiten, 20,3 x 25,4 cm
mit ca. 200 Farbabbildungen
ISBN: 978-3-421-03998-9
Verlag: DVA Architektur