Veröffentlichungen

Mid-Century Modern complete – Design des 20. Jahrhundert

Dominic Bradbury fokussiert in seinem Prachtband über die großen Designklassiker, ihre Entwerfer und ihr Arrangement im Zusammenspiel mit der Architektur auf die Mitte des 20. Jahrhunderts. Möbel, Leuchten, Glas und Keramik, aber auch Textilien, Produktdesign, Grafik und Architektur werden auf 544 Seiten besprochen und in ca. 1000 Farbabbildungen vorgestellt. Damit ist er am Puls der Zeit, gehören doch die Design-Ikonen der Mid-Century-Ära zu den sowohl von professionellen Innenarchitekten wie ambitionierten Einrichtern gesuchten Möbel- und Leuchten Klassikern. Da die leidenschaftlich nachgefragten Originale selbst auf Auktionen und im spezialisierten Handel nicht unbegrenzt gefunden werden können, werden sie von vielen Herstellern wieder neu aufgelegt. Oft jedoch mit neuen Proportionen (die Menschen werden größer) und Materialien (Produktionskostenreduzierung), wodurch die teils wenigen Originale noch wertvoller werden. Die Designkonzepte der 1950er und 1960er sind allerdings nicht nur als Originale oder Re-editionen präsent, sondern wirken auch auf das Design vieler späterer Technikprodukte wie z.B. beim iPod classic von Apple, dessen Design maßgeblich vom Braun Design des Gestalters Dieter Rams geprägt ist (s. Sammler Journal Oktober 2014).

Gesellschaftliche Voraussetzungen

Die Zäsur und der Schock, die der 2. Weltkrieg bewirkt hatten, erforderten eine Neuorientierung und den Wiederaufbau. In Europa und den USA herrschte eine große Sehnsucht nach „Neuem“, um das grauenvolle Vergangene möglichst schnell zu vergessen. In den USA, die sich als einziger ökonomischer Gewinner des Weltkriegs zur führenden Nation des Westens aufschwang, herrschte, nach Jahrzehnten der Depression und anschließender Unterordnung der Wirtschaft unter die Zwänge der Kriegsproduktion, eine enorme Konsumlust. In diesem gesellschaftlichen Umfeld konnten sich Designer und Architekten, darunter auch viele aus dem Dritten Reich nach den USA geflohene wie Walter Gropius oder Marcel Breuer, ohne die Zwänge von Überkommenem frei entfalten und ihre Kreativität und Originalität ausleben. Das kriegszerstörte Deutschland stand am Anfang des Wirtschaftswunders, das in Frankreich in den „Trente Glorieuses“ (1946-1975) sein Pendant fand und die Wirtschaft florieren ließ. Die Zeichen standen weltweit auf Hoffnung und Aufbruch. Im Grafikdesign, das in den 1950er Jahren als wesentlicher Bestandteil der Werbung und des Marketings als neuer Designsektor zur vollen Bedeutung fand, spiegelt sich dies bildlich wider.
Die Experten
Die enorme Breite des Themas wird durch diverse Aufsätze mit Expertenwissen vertieft. So gibt Richard Wright, Gründer und Präsident des Auktionshauses Wright in Chicago, Tipps für Sammler des Mid-Century Designs. Nach seinem Credo „Je mehr man weiß, desto besser erkennt man“ gibt er Tipps, wo und wie man sich Informationen und Wissen aneignen kann. Über seine Gedanken zur Zusammenstellung einer Sammlung führt er schließlich zu diversen Bezugsquellen der Objekte. Weitere Autoren sind der Designkritiker Alberto Bassi, der Möbeldesigner Michael Boyd, die Vintage-Poster Expertin bei Christie’s in London Sophie Churcher und ihre Christie’s Kollegin Joy McCall, der Publizist Matt Gibberd, vom V&A Museum in London die Kuratoren Alun Graves, Sue Prichard und Jana Scholze, Judith Gura von der New York School of Interior Design, der Designer Daniel Heath, Prof. Steven Heller sowie Prof. Klaus Klemp. Ihre Beiträge mit vielen interessanten Fakten sind den einzelnen Kapiteln vorangestellt.

Die Wurzeln der Modernität

Die Moderne der 1920er Jahre mit Bauhaus und Art Déco, mit Entwerfern und Architekten wie etwa Le Corbusier, von dessen Bauten einige kürzlich als UNESCO Weltkulturerbe geadelt wurden, führte zur Entwicklung der Idee von „Modernität“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Mid-Century beginnen fast zeitgleich das Atom-, das Weltraum- und das Computerzeitalter. Geschwindigkeit wird zur wichtigsten Kennziffer, schnelle Transportmöglichkeiten (1959 reduziert die Boing 707 die Dauer eines Transatlantikfluges auf acht Stunden) und Kommunikationsmittel läuten die Globalisierung ein. Damit einher gehen rasante Fortschritte in der Materialentwicklung und den Produktionsmethoden. Für die Designer bietet dies ungeahnte Möglichkeiten, die sie mit dem neuen Internationalismus, als Vorboten der global agierenden Konzerne, über Kontinente hinweg erproben können.

Designer und Disziplinen

Dieser Schwerpunkt des Buches beschreibt in den Kapiteln Möbel, Leuchten, Glas und Keramik, Textilien, Produkt- und Industriedesign sowie Grafikdesign sehr anschaulich das Leben und Wohnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Der Abschnitt Möbel stellt gleich zu Beginn die sechs Schwergewichte des US-amerikanischen Möbeldesigns in einem Foto (Bild 1) vor. In der Juli Ausgabe des Playboy 1961 sind sechs gut gekleidete Herren mit ihren unverhüllten Produkten auf einem Bild zu sehen. George Nelson sitzt auf seinem serving cart, Edward Wormly auf dem „a“ chair, Eero Saarinen im womb chair, Harry Bertoia entspannt im diamond chair, Charles (ohne Ray) Eames posiert auf seinem eames chair und Jens Risom stützt sich auf seinen open armchair. Mit den neuen Materialien und Produktionsverfahren konnten bis dahin undenkbare Formen gewagt werden. Die Käufer wollten ohnehin nichts mehr von den altmodischen Vorkriegsprodukten sehen. Zu Möbeln verformtes Sperrholz von Arne Jacobsen, Sitzschalen aus Aluminiumguss von Eero Saarinen oder aus Kunststoff wie die Fiberglasschalen von Eames oder Hartschaumschalen von Verner Panton (Bild 2: Panton chair), Drahtgitterstühle von Harry Bertoia oder Warren Platners Möbel aus verchromtem Stahldraht weisen neben dem radikal neuen Design zwei weitere Gemeinsamkeiten auf: bequeme Elastizität und robuste Festigkeit. Da viele der Entwerfer auch als Künstler arbeiteten, verstärkte sich im Mid-Century Design die Wechselwirkung zwischen Kunst und Design. Die Möbel erhielten noch nie da gewesene, fließende und geschwungene Formen, das organische Design entwickelte sich. Der Italiener Joe Colombo studierte Malerei und Architektur und arbeitete zunächst als Maler und Bildhauer. Sein wichtiges Möbeldesign und Beispiel für das Zusammenspiel von Kunst und Design ist der skulpturale und komfortable Loungesessel Elda von 1963 in Form eines überdimensionalen Baseball-Handschuhs (Bild 3). Der bereits erwähnte George Nelson schuf farbenfrohe und verspielte Designs wie das berühmte Sofa Marshmellow. Sehr sachlich und reduziert erscheint dagegen seine Kommode 5215 aus Nussbaum, Laminat und Aluminium, 1952 entworfen für den Hersteller Herman Miller (Bild 4). Ideenreichtum und Vielfalt des Designs dieser Epoche spiegeln sich auch in den Entwürfen des Dänen Jens Risom wider, der wegen des Rohstoffmangels zunächst mit Resten von Gurten aus Armeebeständen für Sitzflächen und Rückenlehnen improvisierte.

Leuchten

Eine Königsdisziplin der Designer ist der Entwurf von Leuchten, bei dem neben der eigentlichen Gestaltung des Objekts auch dessen Lichtwirkung und technische Belange berücksichtigt werden müssen. Die Glühbirne als frühes elektrisches Leuchtmittel ergänzt seit knapp 150 Jahren das Sonnenlicht und inspirierte schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts Kunsthandwerker zu außergewöhnlichen und kreativen Leuchten. Im Jugendstil finden sich elegante, organische Formen in floralen Metallmonturen mit hochwertigen von Hand gefertigten Gläsern. Im anschließenden Art Déco wird die blumige Gestaltung nach und nach durch strenge, dem Maschinenzeitalter entsprechende Motive verdrängt. Regelmäßig fließen auch wissenschaftliche Überlegungen zu Streuung und Reflexion bzw. zur optimalen Qualität des Lichts in die Entwürfe mit ein, besonders bei Industrial-Design Leuchten.
Losgelöst von den edlen Modellen der vergangenen Epochen und dank der großen Innovationskraft und Experimentierfreude der Mid-Century Designer sind in ihren Kreationen Zweckmäßigkeit und Klarheit dominierend. Die freie Kunst beeinflusste zunehmend die Leuchten Gestaltung. Der Silberschmied Serge Mouille oder der Bildhauer Isamu Noguchi näherten sich dem Thema mit künstlerischem Blick und schufen Entwürfe mit skulpturaler Ästhetik. Aber auch Zitate aus Science-fiction Vorlagen und die Raumfahrt Euphorie flossen mit in die Kreationen ein. Kräftige, poppige Farben tauchen in Leuchten aus Kunststoff auf, Reflektoren in Kugelform als Symbol des space age. Einen Kontrapunkt zu solch üppiger Pracht setzte das dänische Familienunternehmen Le Klint mit seinen zunächst aus gefaltetem Papier, später aus Kunststoff, in Handarbeit hergestellten Leuchten-Körpern. Die räumlichen Formen der durchscheinenden weißen Schirme erhielten immer komplexere Geometrien wie z.B. die Pendelleuchten 105 aus dem Jahr 1945 (Bild 5). Weiteres skandinavisches Design wird im Buch mit den Leuchten von Poul Henningsen vorgestellt, verspielte italienische Entwürfe von Achille & Pier Giacomo Castiglioni und Gino Sarfatti vervollständigen zusammen mit Leuchten von Jean Royère das Kapitel Leuchten.

Glas und Keramik

Die Herstellung von Keramik ist eine der ältesten Kulturtechniken. Die Keramik blickt als eine der frühesten zivilisatorischen Errungenschaften auf eine lange Tradition zurück. Als wegweisend für die Keramik des Mid-Century Designs gelten die Entwürfe von Russel Wright (USA), besonders sein Tafelgeschirr American Modern von 1939 (Bild 6): schlichte Linien und skulpturale Formen mit natürlichen Farben treten an die Stelle der vormals protzigen Dekors. Dies ganz im Sinne eines demokratischen Designs mit erschwinglichen, aber auch funktionalen und ästhetischen Produkten. Im Mid-Century trifft man auf interessante Stücke selbst aus industrieller Massenproduktion, aber besonders aus der Studiotöpferei und den Ateliers bekannter Künstler wie Pablo Picasso, Georges Braque oder Joan Miro. Italien mit Murano, die Tschechoslowakei und speziell die skandinavischen Länder waren die Zentren der Glasherstellung. Die neue Ästhetik bediente sich u.a. bei Vorbildern aus der Natur und schuf asymmetrische, organische, fließende Körper. Ohne übertriebene Detaildarstellungen überzeugen die Objekte noch heute mit ihrer zurückhaltenden, zeitlos modernen Raffinesse.

Textilien

Jetzt wird’s bunt! Farbenfrohe Designs, als sichtbares Zeichen einer optimistischen Hoffnung auf die Zukunft, bestimmten viele textile Produkte nach den grauen Kriegsjahren. Technologische Fortschritte wie die Verbreitung der Kunstfaser (Synthetik-Boom) und die Weiterentwicklung des mechanischen Siebdrucks in den 1950er Jahren sowie das neue Transferdruckverfahren in den 1960er Jahren, senkten die Preise der Produkte bei gleichzeitiger Beschleunigung der Produktion. Auf aktuelle Trends konnte damit schnell reagiert werden. Moderne und dynamische Motive wurden vom Jet-Zeitalter oder neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet. Tradierte Motive wurden weiterentwickelt und abstrahiert (z.B. florale Themen und Naturmotive). Vorreiter dieser Entwicklung war der österreichische Designer und Architekt Josef Frank, dessen Mitte der 1930 Jahre entstandener Dekorstoff ‚Hawaii‘ von der schwedischen Firma Svenskt Tenn für ein Sofa in den Jahren 1943-45 verwendet wurde (Bild 7)

Produkt- und Industrie-Design

Der erbitterte Wettkampf um technische und militärische Siege im 2. Weltkrieg wurde nach dessen Ende abgelöst vom Kampf der auf alten und neuen Märkten konkurrierenden Konzerne um die kommerzielle Vorherrschaft. Wiederaufbau und wirtschaftlicher Aufschwung fielen in den 1950er Jahren zusammen mit bahnbrechenden technologischen Erfindungen wie dem Transistor. Die Gunst der Käufer gewann nicht unbedingt die beste Technik, zunehmend beeinflusste die Hülle die Kaufentscheidung, wie die genialen Entwürfe von Dieter Rams für Braun oder Jacob Jensen für B&O beweisen. Form und Funktion standen in einer immer komplexer werdenden Beziehung – Jahrzehnte später bestätigte dies Apple Boss Steve Jobs mit dem Satz: „Design is how it works“. In den Fünfzigern bediente man sich allgemein im Produktdesign gerne bei der Stromlinienform mit aerodynamischen, abgerundeten Formen, wie es die perfekten Rundungen des VW Käfers (Bild 8) zeigen.
Grafik-Design
Dem Grafik-Design kam in Zeiten des globalen Dorfes eine zentrale Bedeutung zu. Grenzübergreifender Tourismus und Handel selbst mit fremden Kulturen erforderten eine selbsterklärende Bildersprache, die mit wenigen erläuternden Begriffen (meist in einer der serifenlosen Schweizer Schriftarten Univers oder Helvetica) auskam. Das Grafikdesign sollte dies mit Ordnung und Logik leisten und z.B. die Infrastruktur Verkehr (Flughäfen, Bahnhöfe) visuell strukturieren. Darüber hinaus entwickelte sich das Grafikdesign als wichtiges Marketing- und Kommunikationswerkzeug im Kampf um Marktanteile.

Häuser und Interieurs

In diesem letzten Kapitel des Buchs verschmelzen die Objekte der voranstehenden Kapitel mit der Architektur des Mid-Century. Die Objekte sind nicht einzeln wie in einem Ausstellungskatalog abgebildet, sondern im Kontext des Wohnens. In der Architektur fand ein radikaler Umbruch statt. Das Mid-Century Zuhause hatte nur mehr wenig mit den bis dahin vorherrschenden Wohnkonzepten zu tun. Vielmehr definierte es erstmals die Vorstellungen von offenen Wohnräume oder integrierten Küchen, die noch heute modernes Wohnen auszeichnen. Das Ende der mitwohnenden Dienerschaft im bürgerlichen Haushalt beendete das Konzept strikt getrennter Räume mit festen Funktionen. An dessen Stelle traten universelle Räume mit fließenden Übergängen der Bereiche Essen, Unterhaltung oder Erholung. So ist im Bild 9 nicht das ‚Esszimmer‘, sondern der ‚Essbereich‘ genannte Teil eines von Richard Dorman entworfenen Hauses abgebildet, zusammen mit einem bunten Ensemble von Eames Stühlen. Weitere Einblicke werden u.a. in das Maison Louis Carré von Alvar Aalto (1959), das Stillman House II von Marcel Breuer (1966) und das Farnsworth House von Ludwig Mies van der Rohe (1951) gestattet.