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Judith Miller: Vintage Guide. Möbel, Kunst und Design

Von Art Déco bis Flower Power

Vintage – das Zauberwort, das heutzutage in aller Munde ist, wenn über gutes Design, interessanten Schmuck oder trendige Mode gesprochen wird. Es soll nostalgische Gefühle an die gute alte Zeit wecken, als alles besser war. Guide – der nützliche Wegweiser durch unbekanntes Terrain. Der „Vintage Guide“ von Judith Miller, einer durch mehr als 80 Bücher über Antiquitäten und Einrichtungsthemen international anerkannten Expertin, beschäftigt sich fundiert mit den Einrichtungsobjekten, die sich in den letzten 100 Jahren durch ihre gestalterische Qualität eine bleibende Daseinsberechtigung erworben haben. Ihr Guide ist ein profundes Hilfsmittel für Sammler und Flohmarktfans. Er stellt in den drei Kapiteln Art Déco bis Bauhaus, Nachkriegsmoderne und Zeitgenössische Moderne einzelne herausragende Objekte sowie ihre gekonnte Einbindung in moderne Wohnwelten vor. Der „Vintage Guide“ erweist sich als handfester Führer durch die Welt der Antiquitäten und Sammlerstücke des 20. Jahrhunderts. Ein Punktesystem zur preislichen Bewertung ordnet die Schätze sechs Kategorien vom teuren Designerstück bis hin zur massenhaft produzierten, günstigen, aber trotzdem charmanten und interessanten Flohmarktware zu.

Vintage oder Retro

Der Vintage Guide beleuchtet laut seinem Untertitel die Bereiche Möbel, Kunst und Design von Art Déco bis Flower Power – und darüber hinaus. Die Objekte aus der Zeit vor dem Art Déco, also vor 1920, bezeichnet die Autorin als Antiquitäten gemäß der gängigen Definition, alles auf Grund seines Alters und seiner Herstellungsqualität Begehrenswerte danach als Vintage. Die aktuelle Faszination der Vintage Einrichtungen fördert die aufmerksame Restaurierung und wohl überlegte Wiederverwendung schöner, alter Dinge, mit denen man sich von Seelen- und Ideenlosen Massenwohneinrichtungen abhebt. Dabei spielt auch der Umweltschutzgedanke durchaus eine Rolle, etwas bereits Produziertes verbraucht im Gegensatz zu Neuem keine der immer knapper werdenden Ressourcen. Die Wiederentdeckung und Weiterverwendung erhaltenswerter, gebrauchter Dinge liegt somit voll im Bestreben nach Nachhaltigkeit. Vintage Objekte können preislich durchaus auch über Antiquitäten liegen, das Alter alleine macht die Dinge noch nicht teuer, sondern die Reputation des Entwerfers, die Genialität seiner Kreation und nicht zuletzt der individuelle Zustand. Auch die Aufnahme eines bestimmten Objekts in die Sammlung von Designmuseen muss nicht gleich einen hohen Preis bedeuten, sondern weist in erster Linie auf seinen gestalterischen Wert hin. Meiden sollte man, auch wenn sie zunächst günstig erscheinen, neu produzierte Stücke, die als „Retro“ bezeichnet und mit künstlicher Patina versehen vom Vintage Boom profitieren wollen. Ihnen fehlt der Charme der wirklichen Vintage Objekte, da sie keine ‚Geschichte‘ erzählen können.

Epochenmix

Vintage Möbel und Leuchten verlangen geradezu sie Epochen übergreifend zu einem eklektischen Stil zu kombinieren. Das einst bevorzugte strenge Einrichten in einem Stil ist nahezu schon verpönt. Als interessant werden Räume empfunden, deren Besitzer sich aus verschiedenen Designepochen frei bedienen und so wohl dosiert zu ihrem persönlichen Stil finden. Der Epochenmix wird dabei durch die im 20. Jahrhundert schneller als in vorangegangenen Jahrhunderten wechselnden Wohn- und Designstile vereinfacht, da man aus der noch nicht so weit zurück liegenden Vergangenheit leichter Objekte entdecken kann. So findet sich ein breites Angebot zwischen geometrisch funktional wie im Art Déco oder dem Bauhaus Stil und organisch verspielt wie bei Mid-Century Objekten. Verfügbare Materialien reichen vom Naturprodukt Holz, bevorzugt beim skandinavischen Design, über Metall bis hin zu einer Vielzahl an Kunststoffen. Wählen kann man auch zwischen elegant Einfarbigem, etwa dem im Art Déco häufig gewählten Schwarz, und der Vielfarbigkeit der Pop-Art.
Stellt sich nur noch die Frage, wo findet man die Schätzchen? Auch hier hilft der Vintage Guide. Neben der groben preislichen Einordnung der Objekte und Tipps zum Entdecken von Fälschungen und Unstimmigkeiten gibt Judith Miller sowohl Adressen des gehobenen Handels als auch Hinweise für günstigere Alternativen und deren Bezugsmöglichkeiten, wenn das Budget für das eigentliche Objekt der Begierde (noch) nicht reicht: in ihrem Guide finden sich Objekte für jeden Stil und Geldbeutel. Die vielfältigen Bezugsquellen vom teuren Auktionshaus über den anspruchsvollen Antikhandel bis hin zu Trödelmärkten sind ein Vorteil der Vintage-Einrichtungen, bei deren Anschaffung es nicht in erster Linie um ausreichend finanzielle Mittel geht, sondern besonders um Geschmack, Phantasie und die Fähigkeit, den in den Stücken bei ihrem Entwurf und ihrer Herstellung konservierten Aufwand Wert zu schätzen.

Die Geburt der Moderne

Die Geburt der Moderne datiert die Autorin auf die Zeit zwischen 1880 und 1914. Denkt man aber an William Morris („Have nothing in your house which you do not know to be useful or believe to be beautiful.“) und die von ihm in den 1860er Jahren gegründete Arts-and-Crafts-Bewegung oder auch an Christopher Dresser, der bereits zu Beginn seines kreativen Schaffens zwischen 1850 und 1876 auf der Suche nach maschinengeeigneten Formen für die industrielle Herstellung war, so liegen die Anfänge der Moderne tatsächlich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Stilrichtungen vor der Moderne waren kunsthandwerklich geprägt, meist durchdrungen von einem starken Hang zum – sinnfreien – Ornament. Mit der industriellen Revolution gingen neue Fertigungsmethoden und Werkstoffe wie zum Beispiel die Kunststoffe Ebanit (gehärteter Gummi) und Bakelit oder auch verformbares Sperrholz einher, die nach neuem Design verlangten. So überrascht es auch nicht, dass die Design-Pioniere Morris und Dresser in England wirkten, hatte die industrielle Revolution ihren Siegeszug von England aus begonnen. Wichtige Protagonisten zu Beginn der Moderne waren auch Michael Thonet, der die massenhafte Produktion seiner Möbel und deren Volumen sparenden Transport in Einzelteilen (IKEA dankt!) einführte, Richard Riemerschmid, der die Tradition des Handwerks mit der maschinellen Produktion verband, oder der amerikanische Architekt und Designer Frank Lloyd Wright, der viele Impulse japanischer Kunst aufnahm.

Art Déco bis Bauhaus (1918 – 1945)

Nach dem fürchterlichen 1. Weltkrieg war es nicht verwunderlich, dass die Gesellschaft mit der düsteren Vergangenheit brechen wollte. Dieser Wunsch initiierte sowohl im französischen Art Déco als auch beim deutschen Bauhaus nahezu zeitgleich die Entwicklung modernen Designs, wobei beide sich deutlich voneinander unterscheiden. Beim vielschichtigen Art Déco finden sich die geometrischen Elemente des Kubismus ebenso wie Zitate aus der Bildwelt Afrikas und Ägyptens – die Entdeckung des Pharaonengrabs von Tutenchamun löste 1922 eine „Tutmanie“ aus. Gerne renommierte man mit luxuriösen Rohstoffen wie Ebenholz oder Elfenbein, wagte sich aber auch an moderne, neuartige Materialien wie verchromtes Stahlrohr oder Kunststoff. Man findet sowohl die opulente Verwendung von schmückenden Ornamenten als auch den fast vollständigen Verzicht auf überflüssigen Zierrat bei Designern wie Charlotte Perriand, die auch gerne kostengünstige industrielle Produktionsmethoden für ihre Möbelfertigung übernahm.
Ganz anders beim im Jahr 1919 vom deutschen Architekten Walter Gropius gegründeten Bauhaus, das sich dem Minimalismus verpflichtete. Im Vordergrund stand hier die Form, die auf überflüssige Ausschmückung verzichtete und nur von der Funktion definiert werden sollte. Dies führte zu geradlinig-eckigen Formen, die als fertiges Produkt noch auf den Herstellungsprozess hinwiesen. Große Beachtung fand die Qualität und Oberflächenstruktur der eingesetzten Materialien, darunter oft Glas und verchromter Stahl.

Nachkriegsmoderne (1946 – 1969)

Der 2. Weltkrieg hatte zwar noch mehr Opfer und Zerstörung als der 1. Weltkrieg zur Folge, aber im Gegensatz zur langjährigen wirtschaftlichen Depression nach 1918 folgte nach 1945 eine Zeit des optimistischen Wiederaufbaus und der Beginn eines noch nie da gewesenen breiten Wohlstands in Europa. Dieser bewirkte eine große Nachfrage nach Konsumgütern, die sowohl ganz traditionell aus Holz und Metall gefertigt wurden, aber auch aus neuartigen Materialien wie verformten Kunststoff und gebogenem Sperrholz, legendär sind bei diesen die Möbel von Charles und Ray Eames oder Arne Jacobsen. Fortschrittliche industrielle Fertigungsverfahren mit von den Designern darauf abgestimmten Entwürfen ermöglichten eine Neu-Möblierung zu erschwinglichen Preisen für fast alle Einkommensgruppen. In diesem positiven Umfeld erschuf das Kunstgewerbe einen neuen Stil, der in Harper’s Bazaar als „New Look“ tituliert wurde. Die Linien wurden im Gegensatz zu den strengen 1920er und 1930er Jahren wieder kurvenreicher und femininer. Dieser Stil sollte als Nachkriegsmoderne bezeichnet die 1950er und frühen 1960er Jahre prägen. Im Vordergrund standen wieder natürliche Materialien, besonders Holz bei den skandinavischen Designern, und betont organische und skulpturale Formen.

Zeitgenössische Moderne (1970 – 2015)

Die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und die Jahre nach der Jahrtausendwende waren und sind geprägt von immer schneller wechselnden Trends und ungeahnten technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritten, wenn man nur an die rasante Entwicklung des Internets und der Digitaltechnik denkt. Unser Alltag ist von Design durchdrungen, das im Bereich der technischen Produkte immer mehr Anwender orientiert ist (nutzerfixiertes Design thinking): Autodesign, Modedesign, Möbeldesign, und selbst Friseure sprechen von Haardesign. Die neuen Technologien der Industrie nähern sich immer mehr den physikalischen Grenzen an, die Designer stehen hier nicht zurück und reizen die sich ihnen bietenden Chancen, ermöglicht durch immer vielseitigere Materialien und Produktionsverfahren wie zum Beispiel die 3-D Drucker, bei der Formgebung aus. In der Folge hat sich eine Vielfalt an Stilen entwickelt, die gleichzeitig angeboten werden. Sie orientieren sich teils an der Tradition, wie die iPods von Apple gestaltet nach dem Vorbild Taschenradioempfängers T3 von Dieter Rams für die Firma Braun aus den 1950er Jahren, teils brechen sie auch mit dieser radikal, um gänzlich Neues zu schaffen. Zu Beginn der zeitgenössischen Moderne stand die Postmoderne, die sich um 1980 zum Beispiel mit Ettore Sottsass und seiner Memphis Gruppe entwickelt hat. Deren Formen hatten stets ikonographische Bezüge, einen historischen Bezug.
Der Vintage Guide hilft durch seine sorgfältig recherchierten Informationen dem ambitionierten Anfänger Bezugsquellen zu finden, die angebotenen Objekte dem jeweiligen Stil zuzuordnen und preislich zu bewerten. In jedem der drei Hauptkapitel finden sich für die jeweilige Epoche Highlights, die „Objekte, die Maßstäbe setzten“. Das Buch ist aber nicht nur ein Nachschlagewerk, vielmehr ist der Guide von Judith Miller auch eine Hommage an das spannende und vielfältige Design des 20. Jahrhunderts. Die perfekten Bilder von Räumen, die mit sicherer Hand arrangierte Einzelstücke in Szene setzen, ist ein weiterer Pluspunkt des Buches, das die eine oder andere Idee zur Nachahmung liefern kann.