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Geschichte des Freischwingers

14 Stunden verbringt der durchschnittliche Deutsche täglich im Sitzen. Das allein erklärt aber noch nicht, warum sich Die Neue Sammlung – Staatliches Museum für angewandte Kunst in München – in Kooperation mit dem Neuen Museum in Nürnberg (NMN) in einem Ausstellungsraum ausschließlich dem Thema „Kragstuhl“ bzw. Freischwinger widmet. Der Kragstuhl stellt als ein zweibeiniger Stuhl (meist ohne Hinterbeine) die höchsten Anforderungen an seinen Entwerfer. Er wird Freischwinger genannt, wenn seine Konstruktion es ihm ermöglicht, unter dem Gewicht einer Person federnd nachzugeben und zu „schwingen“. In den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt, steht der Freischwinger als Musterbeispiel des modernen Möbeldesigns und ist entsprechend prominent in den internationalen Design-Museen wie eben im NMN vertreten. Das Prinzip des Freischwingers wurde zunächst mit gebogenem Stahlrohr realisiert, in den 1930er Jahren gefolgt von frei schwebenden und federnden Sitzflächen aus Holz bzw. ab den 1960er Jahren aus Kunststoff. Die frühen Kragstuhl/Freischwinger Entwürfe spiegeln als Architektur im kleinen Maßstab deren Formideale zu Beginn der Moderne wider, konstruktiv zeigen sie die Möglichkeiten der damals verfügbaren Technologien auf.

„Ob der Philipp heute still – Wohl bei Tische sitzen will?“ Mit diesem Reim beginnt 1844 Heinrich Hoffmann die Geschichte vom Zappel-Philipp in seinem pädagogisch fragwürdigen Kinderbuch „Der Struwwelpeter“. Sollte dieser Philipp auf einem der nachfolgend beschriebenen Stühle sitzen, so wird er mit Sicherheit nicht ruhig sitzen bleiben (können). Die Möglichkeit sich in Bewegung zu halten, erklärt neben dem ästhetischen Reiz der diversen Konstruktionen die Beliebtheit des Prinzips Freischwinger. Vom Standpunkt des Marketings aus gesehen war auch die Namensgebung des neuartigen Sitzmöbels gelungen. Wie hätte das zu seiner Entstehungszeit exotische Möbel als „Wackelstuhl“ oder „Schaukelsitz“ auf die potenziellen Käufer gewirkt, die der Stabilität des Gebildes zunächst ohnedies skeptisch gegenüber standen?

Physikalisch betrachtet entsteht eine Schwingung, wenn ein System durch eine äußere Störung, hier die Gewichtskraft der sich auf den Stuhl setzenden Person, aus dem Gleichgewicht gebracht wird und durch eine rücktreibende Kraft, im Fall des Freischwingers die Federkraft des Stuhls, wieder in die Ausgangsposition zurück geführt wird. Die Stabilität des Stuhles wird dadurch gewährleistet, dass die auftretenden Kräfte, also hauptsächlich die Gewichtskraft der sitzenden Person, über die Spannung in den Vorderbeinen auf die nach hinten laufenden Füße abgeleitet wird. Der den Boden berührende Teil des Stuhles muss entsprechend lang bzw. großflächig ausgeführt werden, um ein Umkippen des Stuhls nach vorne oder hinten bzw. zur Seite zu vermeiden. Bei einem physikalisch richtig gestalteten Freischwinger wird sich unter Last die Sitzfläche leicht nach unten und hinten senken, und beim Sitzen zu einem angenehmen Schaukeln führen.

Die physikalischen „Zwänge“ des stabilen Schwingens erforderten ein systematisches Herantasten an die idealen Dimensionen. Denkt man nur an das Stahlrohr, so hat man hier alleine mit dem Rohrdurchmesser und der Rohrstärke zwei Parameter, die eingestellt werden mussten. Die gleiche Problematik gilt für die Dimensionierung der Freischwinger aus Holz bzw. Kunststoff.

Seit Menschengedenken war der Stuhl ein „Vierbeiner“. Groß war die Überraschung der Besucher der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, als sie 1927 die Musterwohnung der Werkbund-Ausstellung betraten: zwei der gewohnten Vierbeiner waren zu Zweibeinern mutiert (ein Vorgang, den man bisher nur von der Evolution der Lebewesen kannte). Verantwortlich für diese Mutation zeichneten Ludwig Mies van der Rohe und sein Kollege Mart Stam, die die Sitzflächen ihrer Kreationen über U-förmigen Füßen nahezu schweben ließen.

Mit dem chaotischen Durcheinander zu Ende der Katastrophe 1.Weltkrieg im Jahr 1918 war sowohl die Chance für einen radikalen politischen Neuanfang gegeben, als auch für eine grundsätzliche Neuorientierung in Architektur und Design. Die neuen Gebäude sollten transparent und offen, licht- und luftdurchlässig, einfach, bequem, funktional und gleichzeitig kostengünstig sein. Diesem Anforderungsprofil sollten auch die modernen Möbel entsprechen, was nahezu zwangsläufig zur Erfindung des Kragstuhls führen musste. Die Künstler und Kreativen übernahmen in den sogenannten „Goldenen Zwanzigern“ auch sozial-politische Verantwortung und richteten ihr Augenmerk auf die größtenteils (besonders hygienisch) unzumutbaren Wohnverhältnisse in weiten Teilen der Bevölkerung. Deshalb sollten die neuen Möbel auch für Geringverdiener bezahlbar bleiben. Dem breiten Publikum zu vermitteln, dass es fortan nicht mehr mit den gewohnten, vermeintlich „wertvollen“ Möbeln aus Holz, sondern mit Sitzskulpturen aus dem Industriewerkstoff Stahl leben sollte, erforderte allerdings überzeugende Argumente.

Im Möbeldesign der Moderne beginnt die Geschichte des Freischwingers im Jahr 1927 mit der Entwicklung eines Kragstuhls durch Mart Stam (1899-1986), der seine architektonischen Inputs aus seiner freundschaftlichen Beziehung zum Architekten El Lissitzky erhielt. Angelehnt an El Lissitzkys fantastische Wolkenbügel-Hochhäuser, reichten ihm gewöhnliche Gasrohre und 90° Bögen als Ausgangsmaterial seines hinterbeinlosen Gasrohrstuhls, den jeder Heimwerker leicht nachbauen könnte. Als eine solche Rekonstruktion ist er auch in der Nürnberger Ausstellung zu sehen. Präsentieren konnte Stam den Originalstuhl als Vorbild an formaler Strenge und räumlicher Offenheit in seiner Innenraumausstattung des Hauses Nr. 28 der Siedlung des Deutschen Werkbundes am Stuttgarter Weißenhof. Für Stam war der Stuhl ein Experiment, das zum Ziel industriell und seriell herstellbarer Alltagsmöbel für jeden Geldbeutel führen sollte. Leider blieb ihm die Eigenschaft des Schwingens versagt, da das Gasrohr zu dick bzw. zu spröde und damit zu unelastisch war. Ein anderes Exemplar wurde aus zu weichem Eisen gebaut, woraufhin dieser Prototyp unter dem Gewicht seines Erfinders einknickte. Zumindest war der erste Schritt getan, dem schon bald diverse – schwingende – Modelle anderer namhafter Designer und Architekten wie Mies van der Rohe oder Marcel Breuer folgen sollten. Als erster löste Ludwig Mies van der Rohe die Materialfrage für das beabsichtigte Schwingen. Kalt gezogene Stahlrohre mit einem Außendurchmesser von 25mm und 2mm Wandstärke erwiesen sich als äußerst stabil und gleichzeitig ausreichend elastisch für den ersten wirklichen Freischwinger mit halbkreisförmigen Vorderbeinen und der Bezeichnung „MR10“. Noch 3 Tage vor der Weißenhof-Ausstellung ließ sich Mies van der Rohe die Art und Weise, mit der er die Elastizität des Stuhls zu nutzen wusste, patentieren, bei gleichzeitiger Anerkennung Mart Stams als Erfinder der Grundform. Das enorme wirtschaftliche Potenzial des Prinzips Freischwinger erkennend, klagten sich nach 1929 mehrere Entwerfer und Firmen durch die Instanzen, die letztendlich 1932 Mart Stam die künstlerische Urheberschaft bestätigten. 1936 wehrte sich Mies van der Rohe erfolgreich gegen den Versuch der Firma Mauser sein Patent von 1927 für nichtig erklären zu lassen und bekam seine Rechte an den wesentlichen technischen Aspekten des Freischwingers bestätigt. Danach war Mies van der Rohe weitere sieben Jahre in einen anderen Patentprozess involviert, der erst 1944 mit der Ausrufung des „totalen Kriegs“ ein Ende ohne Gewinner finden sollte.

Der Urtyp des Freischwingers aus den 1920er Jahren besteht aus einem einzigen mehrmals gebogenen Metallrohr, das den tragenden Rahmen des Sitzmöbels bildet. Die Vorderbeine verbinden die nahezu parallel verlaufende Sitzfläche mit dem Fuß, der in Schlittenform ausgeführt ist. Der Stuhl steht wie auf Kufen; diese Form verleiht ihm den Anschein einer gleitenden Bewegung und signalisiert bereits im Ruhezustand Dynamik. Vom hinteren Teil der Sitzfläche knickt der Rohrrahmen links und rechts noch einmal in etwa 90° nach oben und bietet so die Möglichkeit, die Rückenlehne aus Holz, Eisengarn oder Tuch zu befestigen und damit gleichzeitig das Stahlrohrgestell zu stabilisieren. Spätere Entwürfe aus Kunststoff verzichten auf einen Rahmen und werden in einem „Guss“, also als eine zusammenhängende gebogene Fläche von der Rückenlehne über die Sitzfläche und die Beine bis zum Fuß produziert. Obwohl ursprünglich als funktionales und praktisches Wohnobjekt konzipiert, drängt sich bei so manchem Entwurf der Eindruck eines Kunstwerks auf; die Grenze zwischen Design und Kunst verläuft beim Freischwinger fließend.

Eines der Highlights der Präsentation im Neuen Museum Nürnberg ist der Sessel „Siesta“ (H. 74cm, Sh. 36cm, B. 55cm, T. 77cm) des Tschechen Ladislav Zak (1900-1973) aus dem Jahr 1931, den die Stiftung Pinakothek der Moderne im Jahr 2007 für Die Neue Sammlung erwarb. Es handelt sich dabei um eines von maximal 25 produzierten Exemplaren dieses Modells. Grund für das geringe Vorkommen: der Sessel ging nie in die Serienproduktion, sondern wurde von Zak nur auf Bestellung hergestellt. Typisch für seine Entstehungszeit ruht er auf einem rechteckigen Standbügel, der vorne an beiden Seiten über eine nach unten geführte Rundung senkrecht nach oben strebt. Die Armlehnen verlaufen zunächst schräg nach hinten unten, bevor sie wieder ansteigen und über die Rückenlehnbügel den Rahmen zu einem sogenannten Endlosrohr, bei dem es weder Anfang noch Ende gibt, verbinden. Der handgewebte dunkelblaue Bezugsstoff entstand nach einem Entwurf von Antonin Kybal (1901-1971). Bei dem ausgestellten Sessel ist dieser Originalstoff in einem außergewöhnlich guten Zustand, da der Sessel früh überpolstert und der darunter verbliebene Originalbezug damit geschützt worden war. Hergestellt wurde der Sessel bei Hynek Gottwald in Brandys nad Orlici, in der damaligen Tschechoslowakei.

Ladislav Zak wurde 1900 in Prag geboren, wo er von 1919 bis 1924 an der Akademie für Bildende Künste studierte, um dann als Maler, Architekt, Möbel-Entwerfer und Publizist tätig zu sein. Auch seine Biografie spiegelt die Nähe von Architektur und Design wider. Für kleine und „minimale“ Wohnungen entwarf er u.a. herausklappbare Wandschränke und eben Stahlrohrstühle und -sessel, obwohl letztere wegen ihrer Größe letztendlich nur Villen möblieren konnten. Zak wirkte als einer der bedeutendsten Architekten seiner Zeit auch bei Projekten des tschechischen Werkbundes (SCSD) mit. Seine Vorstellungen zur modernen Möbelgestaltung präsentierte er zum Beispiel bei der Werkbundsiedlung BABA in Prag (1928 – 1932) oder bei dem Ensemble „Volkswohnung“ auf einer SCSD Ausstellung in Prag 1937. Bedingt durch den Kalten Krieg blieb der tschechische Beitrag zur klassischen Moderne und seine namhaften Protagonisten wie eben Zak lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang verborgen. Der Sessel „Siesta“ kann auf Grund der Kühnheit und Kompromisslosigkeit seines Entwurfs als das wichtigste Stahlrohrmöbel des tschechischen Funktionalismus bezeichnet werden.

Im Westen prominent bekannt ist Zaks Kollege Marcel Breuer (1902-1981), ebenfalls Designer und Architekt. Der gebürtige Ungar wurde schon 1925 „Jungmeister“ und Leiter der Möbelwerkstatt am Bauhaus in Dessau. Breuer ist hauptsächlich bekannt durch seine Arbeiten zum Thema Stahlrohr-Möbel. Seiner Wunschvorstellung, dass die Menschen eines Tages nur mehr „auf einer elastischen Luftsäule“ sitzen würden, näherte er sich mit seinen Stahlrohr Variationen schon sehr gut an. Zunächst wurden seine Entwürfe von der Firma Standard-Möbel realisiert, die er 1926/27 zusammen mit dem ungarischen Architekten Stefan Lengyel gegründet hatte. Schon 1928 beendet er sein Engagement bei Standard-Möbel, verkauft seine Anteile und arbeitet von 1929-31 für den international renommierten Möbel-Hersteller Thonet. Breuer präsentierte 1927 seinen wohl bekanntesten Stahlrohr-Clubsessel Typ B3, der unter dem Namen Wassily-Stuhl als Bauhaus Klassiker in die Designgeschichte einging, was durch zahllose Re-Editionen bestätigt wird.

In Nürnberg wird ein Gestell für den Stuhl Modell 331 (H. 73,5cm, Sh. 44cm, B. 37cm, T. 50cm)gezeigt, das durch die fehlende Sperrholz Sitzfläche und Rückenlehne die Ästhetik des gebogenen Bandstahls hervorhebt. Die senkrechten Abschnitte des Bandstahlgestells laufen jeweils in der unteren Kufe bzw. mit der seitlichen Zarge zusammen, die rückwärtigen Beine sind mit einer Querverstrebung verbunden. Der Entwurf datiert auf die Jahre 1931/32, produziert wurde das Gestell bei der schweizerischen Embru-Werke AG in Rüti/Zürich. Breuer hatte den Stuhl Modell 331 als Teil einer Möbelkollektion aus dem leichten und rostfreien Material Aluminium, dem für viele Einrichtungsgegenstände in Flugapparaten wie den Zeppelinen bevorzugten Metall der Moderne, im Auftrag der Embru-Werke entworfen. Für diese Modelle setzte er flaches Bandmaterial ein. Nach Breuers Entwürfen aus federnden Aluminium- oder Stahlstreifen ließ 1933 das schweizerische Unternehmen „wohnbedarf“, 1931 gegründet von Rudolf Graber, Werner Moser und Siegfried Gidion, die gesamte Kollektion bei den Embru-Werken produzieren. Im November 1933 wurden die Modelle der Breuerschen Kollektion mit allen ersten Preisen des Internationalen Aluminiumwettbewerbs in Paris ausgezeichnet. Die Aluminium Ausführung dieser Modelle wurde später durch die Varianten aus verchromtem Stahl oder verzinkten Stahlband ergänzt.

Von Deutschland ausgehend verbreitete sich die Idee vom freischwingenden Sitzen auch in der Tschechoslowakei großflächig. So war es nicht nur an Ladislav Zak die Stahlrohr Möbel in seinem Heimatland populär zu machen. Einen namhaften Mitstreiter fand er in dem Prager Architekten und Möbeldesigner Jindrich Halabala (1903-1978), dessen Entwürfe im Vergleich zu Zaks Kreationen wesentlich zahlreicher produziert wurden. Halabala orientierte sich an der Formensprache des Bauhauses, besonders an Marcel Breuer, und bevorzugte in den 1930er Jahren Stahlrohr. Holz dominiert seine späteren Möbel aus den 1940er Jahren und danach. Halabalas Entwürfe sind teils wunderlich gebogene Gebilde, wobei er möglicherweise mit Hilfe dieser teilweise erzwungen neu anmutenden Formen jedweden Patentstreit umgehen wollte. Bei einigen seiner Stühle kehrte er das gebräuchliche Freischwinger Prinzip um, was zu Stühlen ohne Vorderbeine führte.

Das Nürnberger Exponat, der Freischwingerstuhl Modell H-79 (H. 85,5cm, Sh. 47cm, B. 52cm, T. 68cm) aus den Jahren 1930/31, ruht auf einer vorne abgewinkelten U-förmigen Kufe, die hinten bogenförmig ansteigt und nach vorne geführt über einen sehr engen Halbkreisbogen in die horizontale Sitzfläche übergeht. Man sitzt somit auf den Hinterbeinen, anstatt auf den sonst vorherrschenden Vorderbeinen. Aus der Sitzfläche entwickelt sich die leicht schräge Rückenlehne mit einem nach hinten abknickenden Bügel, wie er von Breuer Stühlen bekannt ist. Das verchromte Stahlrohr Gestell ist mit rotem Eisengarn bezogen. Der Hersteller Sponjene UP zavody produzierte in Brno (Brünn/Tschechien).

Dem traditionsbewussten Teil des Publikums, der mit den kühlen Stahlentwürfen geschmacklich „überfordert“ war, kamen Designer wie der Finne Alvar Aalto (1898-1976) entgegen. Obwohl er bereits einen sehr positiv bewerteten Stahlrohr Freischwinger entworfen hatte, missfiel ihm selbst die Strenge der neuen Architektur und besonders das „seelenlose“ Material Stahlrohr im Möbelbau. Metallmöbel qualifizierte er als „psychologisch zu hart“ ab. Zwischen 1929 und 1933 wurde er mit dem Bau und der Möblierung eines Tuberkulosesanatoriums in Paimio (Finnland) beauftragt. Die Birkenwälder seiner Heimat versorgten ihn mit biegsamen und elastischen Material, das er in dünnen Schichten verleimen ließ. Daraus wiederum konnten schwingende Formen für komfortable Sessel gebogen werden, die als Paimio Sessel bekannt und unter Sammlern sehr begehrt sind.

Im Nachkriegs-Deutschland war die Produktion von Stahlrohr-Freischwingern rückläufig. Zunächst war während des Krieges Stahl als kriegswichtiges Material rationiert, danach auf Grund der kriegsbedingten Zerstörung der Produktionsstätten knapp. Derart zwangsweise entwöhnt, wandten sich die Käufer zum Ende der 1950er Jahre ab von der kühlen Sachlichkeit und Strenge der hygienischen „Sanatoriumsmöbel“ und begannen bald die optimistische Vielfarbigkeit der neuartigen Plastikwerkstoffe zu schätzen. Die synthetischen Kunststoffe prägten nach 1945 das Produktdesign der Industrienationen und ermöglichten bis dahin nicht vorstellbare Formen für die Weiterentwicklung des Stuhldesigns. Wurden zunächst nur Sitzschalen aus Kunststoffen gestaltet, sollte bald die Herstellung des kompletten Stuhls aus einem Stück Plastik möglich sein. Spätestens Ende der 1960er Jahre hatte sich das Design von Gebrauchsgegenständen aus Kunststoffen als Synonym für das Raumfahrtzeitalter etabliert, unter anderem auch weil die Designer häufig auf Form-Vorbilder aus der Raumfahrt zurückgriffen. Das Erscheinungsbild dieser futuristischen, naturfernen Kunstwelt sollte poppig, farbig, laut und sexy sein, wie die neu entwickelten Kunststoffe. Der Rückblick zeigt, dass wie einst die Stahlrohrmöbel der 1920er Jahre nun die Plastikmöbel des Pop-Zeitalters Mensch und Maschine einander näher bringen sollten, indem sich jeder sein „Raumschiff Enterprise“ oder zumindest Accessoires daraus in seine Privatsphäre holen konnte. In der Nürnberger Ausstellung ist deshalb der Kunststoff-Freischwínger ein Schwerpunkt neben dem Stahlrohr.

Der dänische Architekt und Designer Verner Panton (1926-1998), also geboren im Geburtsjahr des Kragstuhls, führte als einer der ersten die Pop-Art in die Welt der Möbel ein und versorgte neben vielen anderen Designklassikern den für Neuerungen aufgeschlossenen Teil unter den Käufern auch mit seinem farbenfrohen S-Stapelstuhl (H. 80cm, Sh. 44cm, B. 49cm, T. 57cm). Aus einer bogenförmig gezogenen Standfläche erhebt sich ein S-förmiger Freischwinger mit abgerundeter Lehne in einem „Guss“ aus einem einzigen Stück Kunststoff. Ursprünglich entwickelte Panton für Thonet in Wien den Stuhl namens „Freischwinger S“, der aus einem Stück Sperrholz unter Dampfdruck in die Endform gebogen wurde. Anschließend experimentierte er mehrere Jahre damit, dieses Prinzip auf das Material Kunststoff zu übertragen. 1959/60 gelang ihm der Durchbruch und der Name (des ehemaligen Assistenten der dänischen Design-Ikone Arne Jacobsen: „Ameise“) ging mit diesem Stuhl unter der Bezeichnung „Panton Chair“ in die Designgeschichte ein. Der Stuhl stellt Pantons definitiven Durchbruch als Designer dar und begründete seine weltweite Bekanntheit. Im Jahr 1963 folgten der Umzug Pantons nach Basel und die Zusammenarbeit mit dem Möbelhersteller Vitra. 1967 konnte Panton mit der Serien-Produktion des Freischwingers S in den leuchtenden Farben aus dem Spektrum des Regenbogens in Kooperation mit Vitra und Unterstützung der Bayer AG beginnen. Wie viele der anderen Panton Entwürfe wirkt auch der S-Chair mehr als Skulptur im Raum, denn als gewöhnliches Wohnutensil. Die gestalterischen Möglichkeiten der neuen Kunststoffe erlaubten Panton absolute Freiheit in Bezug auf die Form und die Farbwahl. Ab den 1970er Jahren gliederte sogar die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ein vergleichbares Plastemöbel in ihr Möbel-Repertoire ein.

Schon ein Jahr später, 1961, schufen die italienischen Designer Cesare Leonardi und Franca Stagi mit dem „Ribbon Chair“ Sessel Mod. Nr. CL9 (H. 64cm, Sh. 36cm, B. 100cm) ein äußerst elegantes Möbel. Nach einem Prinzip, ähnlich dem von Charles und Ray Eames zur Befestigung ihrer „plastic shells“ aus glasfaserverstärktem Kunststoff mit Gummipuffern auf Metallkonstruktionen, montierten Leonardi und Stagi ihre weißlackierte fiberglasverstärkte Polyester-Sitzschale in Form einer eingedrückten Endlosschlaufe auf einen dreieckigen verchromten Stahlrohrstandbügel. Der nach unten gedrückte obere Teil der Schlaufe dient dabei als Rückenlehne, seine Ränder als Armlehnen. Die skulpturale Sitzschale, die an die „Endlosen Schleifen“ des Architekten Max Bill anknüpft, ist ein früher Ausblick auf die unbegrenzt erscheinende Formbarkeit des synthetischen Werkstoffs. Zwischen 1961 und 1969 wurde der Sessel bei Bernini in Carate Brianza/Italien gefertigt, ab 1969 bei Elco in Venedig.

Das Nachkriegsdesign auf dem Boden des nach 1945 entstandenen 2. deutschen Staates, der DDR, wird und wurde in der Neuen Sammlung, einmal sogar in einer eigenen Ausstellung (Design und Kunst. Burg Giebichenstein 1945-1990. Ein Beispiel aus dem anderen Deutschland), ausführlich gewürdigt. Zu den bemerkenswerten Resultaten auf sozialistischem deutschen Boden zählt auch der Foyer-Sessel (H. 70cm, Sh. 42cm, B. 67cm, T. 84cm)von Rudolf Horn (*1929), einem der kreativsten funktionalistischen deutschen Möbeldesigner der 50er bis 80er Jahre. Der gebürtige und noch immer dort wohnhafte Sachse war entscheidend an der Gestaltung des 1967 erstmals aufgelegten Montagemöbelprogramms MDW der Deutschen Werkstätten Dresden-Hellerau beteiligt. Fast ein viertel Jahrhundert lang ragte es – nur leicht hinsichtlich Technologie und Ästhetik überarbeitet – als avantgardistischer Bestseller aus den „real existierenden“ DDR-Möbelprogrammen heraus. Zudem war Horn Hochschullehrer an der Hallenser Burg Giebichenstein und Industrieberater. Anfang der 1970er Jahre entwickelte er mit seinen Studenten das komplexe Großprojekt „Variables Wohnen“ mit u.a. veränderlichen Innenwänden und einem integriertem Stauraumsystem, womit er eine praktikable und ansprechende Alternative zum sozialistischen Massenwohnungsbau im Einheitsdesign anbot. Nicht verleugnen kann Horns ca. 1965 entstandener Foyer-Sessel im Nürnberger Museum seine ästhetische „Nähe“ zum Barcelona Chair (1929) von Ludwig Mies van der Rohe. Das aus verchromtem Bandeisen (Edelstahl) bestehende Freischwingergestell ist an der Rückseite verschraubt, so dass es sich nach vorne wie eine Gabel federnd öffnet. Darauf ruhen die mit braunem Leder bezogenen rechteckigen Sitz- und Rückenpolster. Die Produktion wurde von der Firma Röhl in Potsdam übernommen.

„Fantastic plastic“ beschreibt das folgende Objekt nur annähernd. Komplett aus knallrotem, glasfaserverstärktem Polyester geformt ist Bernard Rancillacs organisch wirkender Sessel Éléphant aus dem Jahr 1966. Die ungewöhnliche Form, die aus mehreren unterschiedlich gewellten Partien der Fiberglasschale modelliert ist, ist das Ergebnis Rancillacs komplexer Studien über die Ruhepositionen des menschlichen Körpers. Der Sessel Éléphant verbindet Ergonomie mit der zeitgemäßen Interpretation des organischen Designs. Zweifellos ist er ein Musterbeispiel der Formgebung von Objekten aus Kunststoffen und wurde trotzdem nur in einer überschaubaren Stückzahl von 100 Exemplaren von der Galerie Lacloche, Paris, hergestellt. Seine Seltenheit hat seinen Marktwert inzwischen in den Bereich 5-stelliger Preise gehoben. Mit einer Breite von 142cm und einer Länge von 160cm nimmt er gewaltige Ausmaße ein, bei einer relativ geringen Höhe von 60cm. Auf dem bogenförmigen Standbügel aus schwarz lackiertem Bandstahl, mit zwei schräg nach oben führenden Streben, ruht die Kunststoffsitzschale mit ihren geschwungenen, nach oben gezogenen Ecken des Rückenteiles. Nach vorne ragt die verlängerte, bandartige Beinauflage in den Raum. Man erlebt sich quasi zwischen den Ohren auf dem Rüssel eines gutmütigen Dickhäuters sitzend. Der Sessel Éléphant ist der populärste Entwurf des französischen Bildhauers und Designers Bernard Rancillac, der 1931 in Paris geboren wurde. 1985 ging der Sessel bei der Firma Roudillon erneut in Produktion.

Auch der Däne Steen Ostergaard (1926-1990) versuchte sich am Freischwinger aus Plastik. Das Ergebnis ist der Stuhl „Cado 290“ (H. 75cm, Sh. 43,5cm, B. 53cm, T. 51cm) mit nach hinten gerundeter bogenförmiger Kufe, die vorne nach oben verlängert in die Sitzschale mit ihrem annähernd rechteckigen Sitz und trapezförmiger Lehne übergeht. Der Entwurf datiert aus dem Jahr 1970, die Produktion wurde dem Hersteller Cado in Kopenhagen anvertraut. Mit seinem eigenwilligen Fuß und seinem eleganten Schwung hebt er sich aus der Masse der damaligen Kunststoffsitze heraus. Der Stuhl aus glasfaserverstärktem Polyamid zählt zu den ersten, in einem Stück gegossenen Kunststoff-Freischwingern. Durch die Aussparung am Fuß zusammen mit der dünnen Materialstärke konnte er mit geringem Materialeinsatz produziert werden und war somit bestens für die 1. Ölkrise zu Anfang der 1970er Jahre und die beginnende Öko-Bewegung aufgestellt.

Im volkseigenen Betrieb (VEB) Petrochemisches Kombinat Schwedt wurde nach dem Entwurf des Designers Ernst Moeckl aus dem Jahr 1971 der Stapelstuhl „Variopur“ (H. 75,8cm, Sh. 43cm, B. 46cm, T. 60cm) aus dem Kunststoff PU produziert. Das ‚pure’ Design wird durch das Finish mit weißem Lack unterstrichen. Auf den beiden winkelförmigen Seitenwangen ruht die annähernd rechteckige Sitzfläche. Den sehr geometrisch konstruierten Stuhl schließt eine leicht trapezförmige Lehne ab. Ernst Moeckl (* 1931) wurde an der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG) ausgebildet. Neben dem Bauhaus ist die HfG die zweite große Institution in der Geschichte des deutschen Industrie- und Produktdesigns, für die Moeckl schon während seines Studiums für die von Max Bill gestalteten Gebäude der HfG Türklinken entwarf. Seinen Studienabschluss im Jahr 1958 krönte Moeckl mit dem Entwurf der Besteckserie „Moeckl“, einem Paradebeispiel des in Ulm propagierten Designs, das in die ständige Sammlung des Württembergischen Landesmuseums in Stuttgart aufgenommen wurde.

Der deutsche Designer Alexander Begge (*1941) hat sich nur einmal mit einem Stuhlprogramm auseinandergesetzt. Für die Casala-Werke, Carl Sasse KG in Lauenau/Deutschland, schuf er den Kinderstuhl „Casalino“ (H. 59,5cm, Sh. 33,5cm, B. 42cm, T. 40cm) aus gelbem oder orange-farbenem Luran Kunststoff. Der Entwurf aus dem Jahr 1971 fand damals sehr viel Zuspruch und erhielt auf der Hannover Messe 1971 den Preis „Die gute Industrieform“. Die Tatsache, dass sich der Erfolg am ehesten einstellt, wenn die Arbeit Spaß macht, unterstrich Alexander Begge mit folgendem Kommentar zu seinem Möbel-Entwurf: „Ich habe dafür nicht einmal eine Zeichnung gemacht, ich hatte die Idee eines sphärischen Nebels und damit habe ich losgelegt. Das war eine solche Freude, ich war wie im Rausch. Auf dem Werksgelände bei Casala gab’s eine Sirene, die heulte mehrmals am Tag. Wenn die um 16 Uhr den Feierabend verkündete, dachte ich, es sei die Frühstückspause. Ich habe alles um mich herum vergessen.“ Trotz dieses Erfolges ließ Begge danach keine weiteren Möbel-Entwürfe folgen, sondern studierte Keramikdesign und gründete eine Firma für Ofenbau.

Der Stuhl „Casalino“ entsteht aus einem hufeisenförmigen Fuß heraus, aus dem sich im Gegenschwung Rückenlehne und Sitzfläche entwickeln. Für die zeitlose Qualität des Entwurfs spricht, dass das Programm von Casala 2007 zum 90-jährigen Firmenjubiläum wieder aufgelegt wurde, da es sich um den erfolgreichsten Stuhl in der Firmengeschichte handelt. Ehe die Produktion wieder aufgenommen werden konnte, musste zunächst der Verbleib der originalen Gussformen geklärt werden. Nach einer aufwändigen Suche wurden sie schließlich in der Türkei lokalisiert. Aus der aktuellen Produktion ist der Kinderstuhl heute in 6 Farben und 2 Größen (Casalino und Casalino jr.) erhältlich. Von Casala wird er als stapelbar, abwaschbar, antistatisch, tritt- und kratzfest und – für einen Kinderstuhl besonders wichtig – als wurfbeständig angepriesen.

Der Name der Ende 1917 in Lauenau gegründeten Firma Casala steht für Carl Sasse Lauenau. In den fünfziger Jahren konzentrierte sich Casala vor allem auf Schulmobiliar. Seit 2002 befindet sich der Hauptsitz allerdings in Culemborg/Niederlande. Casala ist spezialisiert auf funktionale Objektmöbel für Büros, Kongresssäle, Universitäten oder Behörden.

Der italienischer Architekt und Industriedesigner Vico Magistretti wurde 1920 in der norditalienschen Metropole Mailand geboren, wo er 2006 auch verstarb. Er gilt heute als einer der großen Vertreter des modernen italienischen Designs. Nach seinem Architekturstudium arbeitete er am bekannten Mailänder Polytechnikum, ab 1945 zunächst in seinem Studienfach als Architekt. Ab den 1950er Jahren bewährte er sich auch als Industriedesigner. Firmen wie Asko, Artemide, Cassina und Rosenthal fertigten nach seinen Entwürfen. Einen Namen in der internationalen Designszene erwarb er sich mit seinem Sofa „Maralunga“ sowie dem Stuhl „Carimate“ aus dem Jahr 1959, der als Symbol des „Swinging London“ gilt. Mit dem Satz „Es gibt keine Entschuldigung dafür, hässliche Dinge zu entwerfen“, hat Vico Magistretti dem Online-Magazin Designboom seinen Sinn für Schönheit, der sich in der strikten Reduktion auf geometrische Formen entfaltet, zusammengefasst. Er verabscheute alles Exzessive, Übertriebene und berief sich gern auf den Mies van der Rohe zugeschriebenen Satz „Weniger ist mehr“. Das von Magistretti entworfene Modell „Selene“ (1969) zählt zu den ersten komplett aus Kunststoff-Spritzguss produzierten Stühlen.

Die Designausstellung im Neuen Museum in Nürnberg zählt Magistrettis Freischwinger-Stuhl „Simi“ (H. 85cm, Sh. 47cm, B. 54cm, T. 54cm) zu seiner Auswahl vorbildlicher Entwürfe. Der Stuhl entstand im Jahr 1984 und fand sich in der Produktpalette der Firma Alias S.r.I. in Mailand. Das dreifach abgerundete Gestell besteht aus schwarzem, Epoxyd beschichteten Stahlrohr. Auf ihm ruht die einteilige Sitzschale aus schwarzem Kunststoff.

Mit seinem Beitrag zum Sony Walkman, dem Ur-Ahn des mp3-Players und aller anderen mobilen Abspielgeräte, machte sich Ross Lovegrove (*1958) als Industriedesigner bekannt. Lovegrove studierte 1983 am Royal College of Art in London, das er mit dem Master of Design abschloss. Viele seiner Werke sind von organischen Formen und Strukturen inspiriert. Anfang der 1980er-Jahre entwarf er in Westdeutschland für Frog Design, wo er am bereits erwähnten Sony Walkman, aber auch an Apples iMac-Computer arbeitete. Später beriet er den Möbelhersteller Knoll International in Paris, wirkte aber auch an Projekten für Airbus, Kartell, Vitra, Hermann Miller, Peugeot und British Airways mit. Immer größere Bedeutung räumt er ökologischen Aspekten ein. Seit 2007 beleuchten seine „solar trees“, solarbetriebene Straßenlaternen in der Form von Bäumen, die Wiener Ringstraße.

Lovegroves Beitrag in Nürnberg ist der freischwingende Stapelstuhl „Magic“ (H. 80,5cm, Sh. 50cm, B. 57cm, T. 61cm), dessen Entwurf für den Hersteller Fasem International S.r.I. in Vicopisano/Italien auf das Jahr 1997 zurück geht. Das Aluminiumrohrgestell ist matt silberfarben. Die beiden parallel verlaufenden Kufen enden vorne unterhalb der Sitzflächenkante, hinten werden sie in einem leichten Schwung nach oben gezogen. Die ebenfalls leicht geschwungene Sitzschale aus Polyurethan (PU-Integralschaum) ist an nur 2 Punkten im oberen Lehnbereich mit dem Gestell verbunden.

Diesen Beitrag zur Geschichte des Freischwingers soll der bisher leider nur als Prototyp existierende Sesselstuhl (H. 81cm, Sh. 49cm, B. 75cm, T. 76cm)des deutschen Designers Stefan Heiliger abschließen. Im Mittelpunkt einer runden Fußscheibe ist der gerundete, aus einer Fläche gebogene Sessel drehbar montiert. Als Materialien wurden Metall (z.T. Aluminium), Schaumstoff und ein lila Stoffbezug verwendet. Der gebürtige Berliner Stefan Heiliger (* 1941) studierte an der HfG in Ulm und unter Prof. Wagenfeld in Stuttgart. Seit 1977 lehrt Heiliger als Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und arbeitet seit 1985 freiberuflich für diverse Möbelhersteller. Seine Arbeitsweise entspricht einem systematischen Herantastens an das Optimum im „trial and error“ Verfahren, wobei er immer wieder die Bedingungen des Sitzens reflektiert. Komfort und Bequemlichkeit sind von zentraler Bedeutung für ihn.

Die Geschichte des Freischwingers begann stürmisch mit dem gebogenen Stahlrohr, dessen Möglichkeiten die Designer der 1920er und 30er Jahre zu gänzlich neuartigen, leichten und gewagten Konstruktionen provozierte. Neue Verformungstechniken von Sperrholz sowie neue Werkstoffe auf Kunststoffbasis trieben die Entwicklung des Freischwingers voran. Wer sich heute auf dem Thema Freischwinger als Designer profilieren möchte, muss gegen die Ikonen des modernen Möbeldesigns, wie Breuers coole Stahlrohrschwinger oder Pantons sexy 60ies Plastik-Kurvaturen bestehen. Im Jahr 2007 gelang Konstantin Grcic ein so genannter großer Wurf mit dem Kunststoff-Freischwinger „Myto“, der bequem, leicht, stabil, stapelbar und mit einem minimalen Bedarf an Kunststoff ökologisch akzeptabel produziert werden kann. Initiiert von der Firma BASF, die ihren in der Automobilindustrie eingesetzten Werkstoffen neue Einsatzgebiete und Märkte im Rahmen eines Designer Workshops im Jahr 2006 erschließen wollte, benutzt Grcic das Plastik Ultradur® High Speed für seinen ersten Freischwinger. Man darf gespannt sein, wie neue Technologien und Materialien in den nächsten Jahrzehnten die Designer zu noch ungeahnten Variationen des Themas erneut stimulieren werden. Vielleicht wird Breuers Vision der Luftsäulensitze noch wahr, indem uns die Designer, nur noch von Energiefeldern getragen, in der Luft schweben lassen. Den wechselnden Moden gehorchend, werden wohl in Zukunft Stahlrohr- und Kunststoff Freischwinger abwechselnd den Markt bestimmen, so wie nach der Plastik-Euphorie der 1960er und 1970er Jahre das Stahlrohr in Form neu aufgelegter Design Klassiker Anfang der 1980er Jahre zunächst wieder dominant war.