Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der ‚Die Moderne‘ genannten Design-Epoche, gravierende Neuerungen von der Einführung der Fließbandarbeit bis hin zur Digitalisierung revolutionierten die Arbeitswelt und wirkten auch auf das Design durch neue Produktionsverfahren sowie Materialien, die neuartige Formen ermöglichten. Es war aber auch das Jahrhundert der französischen Designerin Charlotte Perriand (1903 – 1999), die fast das gesamte Jahrhundert durchlebt hat und wichtige Themen dieser Epoche wie kaum ein anderer Zeitgenosse repräsentiert. Ihr selbstbewusster Feminismus, den sie als wirtschaftlich unabhängige und selbstbestimmte Designerin in einem von Männern dominierten beruflichen Umfeld lebte, steht stellvertretend für den erfolgreichen Kampf um die Gleichstellung der Frau. Außerdem schlugen sich die Mechanisierung und die wachsende Bedeutung des Maschinenwesens zu Beginn des Jahrhunderts stilprägend in ihren Entwürfen nieder. Und schließlich trug Charlotte Perriand mit ihrer Kreativität auch dazu bei, dass im Laufe des Jahrhunderts das Design neben der Architektur für die bewusste Gestaltung der Lebensräume Wohnen und Arbeiten große Bedeutung erlangte. Jacques Barsac, der Autor der ursprünglich auf drei Bände geplanten Monografie, hatte wohl die Fülle des Themas unterschätzt. Die Aufarbeitung des Perriand-Archivs und weitere Recherchen förderten so viel Material zutage, das noch einen vierten Band füllen wird, dessen Erscheinen für 2018 geplant ist.
Der aktuell erschienene dritte Band über die außergewöhnlich talentierte und in vielen Bereichen, auch sozial-politisch, engagierte Designerin Charlotte Perriand beschränkt sich auf seinen 528 großzügig bebilderten Seiten auf die Jahre 1956 bis 1968, also die vorwiegend materialistisch geprägte Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit den Protesten linksgerichteter Bürgerrechtsbewegungen und Studentenprotesten (68er-Bewegung) ihr Ende fand.
Eine der wichtigsten Personen für Charlotte Perriand in dieser Zeitspanne war der Galerist Steph Simon, damals so zusagend der Mann hinter ihr und Jean Prouvé. Bereits 1949 übernahm Simon die Exklusivvertretung der „Ateliers Jean Prouvé“. Mit der Erfahrung, die er sich als Verkaufsleiter der Kühlschrankfirma „Frigidaire“ erworben hatte, trieb er die industrielle Herstellung und den Vertrieb von Möbeln des Designers Prouvé voran. Als es ihm dann auch noch gelang, Charlotte Perriand neben Prouvé als künstlerische Leiterin der ‚Galerie Steph Simon‘ zu gewinnen, stand deren Eröffnung am Boulevard Saint-Germain, im legendären Quartier Latin in Paris, im März 1956 nichts mehr im Wege. In perfekter Arbeitsteilung entwarf Prouvé die Fassade, Perriand kümmerte sich um die Ausstattung der Innenräume der Galerie. Weiterhin vereinbarte Steph Simon mit Jean Prouvé und Charlotte Perriand die Edition von zehn Möbeln pro Jahr. Charlotte Perriand fokussierte dabei auf diverse Variationen von Bücherregalen des gleichen Grundtyps, Sitzmöbel, Liegen, Tische und Leuchten. Drei weitere zeitgenössische, international renommierte Namen der angewandten Kunst des 20. Jahrhunderts ergänzten die Werke der beiden künstlerischen Leiter und rundeten das Angebot der Galerie ab: der Keramikdesigner Georges Jouve, der amerikanische Bildhauer und Designer Isamu Noguchi und der Silberschmied Serge Mouille, der in den 1950ern spektakuläre Leuchten in Kleinserien schuf. Aber auch Entwürfe von Arne Jacobsen und Eero Saarinen waren in der Galerie erhältlich. Mit diesem Portfolio an herausragenden Entwerfern revolutionierte Steph Simon die Designszene im Paris der 1950er Jahre, die dynamische und ehrgeizige Perriand gab dabei das Tempo vor.
Für die stolze französische Fluglinie Air France schuf Charlotte Perriand das Firmenimage und gestaltete weltweit verschiedene Reisebüros und Niederlassungen. In Rio de Janeiro richtete sie die Wohnung des Air-France-Direktors Jacques Martin ein, der 1961 oberster Chef der Fluglinie in Lateinamerika wurde. Das auf dem Buchcover abgebildete Bücherregal Rio bookcase war eines von ihr entworfenen Möbelstücke in Martins Domizil. Auch dieses Kapitel wird durch viele Fotos von Fassaden und Innenräumen anschaulich dargestellt, ebenso wie Perriands eigenes Ferienhaus im savoyischen Wintersportort Méribel.
Weiterhin wird ihr bisher kaum bekannter Beitrag zur Neueinrichtung des Völkerbundpalastes (Palais des Nations) in Genf gewürdigt, mit der im November 1957 begonnen wurde. Der Gebäudekomplex war ursprünglich Sitz des Völkerbundes und wird seit dessen Auflösung im Jahr 1946 von seiner faktischen Nachfolgeinstitution, den Vereinten Nationen, als europäischer Hauptsitz genutzt. Reichhaltiges Bildmaterial dokumentiert Perriands Entwürfe von einzelnen Möbelstücken bis hin zur Ausstattung ganzer Sitzungssäle und Salons, die als Musterbeispiele von sowohl Design- als auch Verarbeitungsqualität teilweise noch heute unverändert ihre Funktion erfüllen. Neben den vielen farbigen und schwarzweißen Fotografien sind es vor allem ihre Entwurfsskizzen, die ihre Arbeitsweise verdeutlichen.
1965 sah es der japanische Botschafter in Paris als notwendig an, eine der Bedeutung und den Ansprüchen seines nach dem verlorenen Weltkrieg wieder aufstrebenden Landes äquivalente Residenz zu erbauen. In der Adresse 31, Rue du Faubourg Saint-Honoré, einer der berühmtesten Einkaufsmeilen der Welt, fand er den idealen Standort direkt in der Nähe des französischen Machtzentrums, dem Élysée-Palast. Perriands seit den 1940er Jahren bestehenden engen Kontakte zu Japan sowie die langjährige Verbindung des beauftragten japanischen Architekten Junzo Sakakura zum Le Corbusier – Pierre Jeanneret Studio, prädestinierten sie für die Aufgabe das Interior Design und die Möblierung zu verantworten. Auch in dieses Kapitel sind zahlreiche Skizzen Perriands aufgenommen, wie die der Fassade für den Entwurf des Beschattungskonzepts oder der Wohnung des Botschafters für den Entwurf einer metallischen Haube über der Feuerstelle. Im Empfangsraum im Erdgeschoss finden sich von Perriand entworfene Sofas mit Kissen von Simone Prouvé sowie ein rechteckiger Schichtholz-Kaffeetisch. Beide stehen stellvertretend für die Stetigkeit ihres Designs. So erinnert das Sofa an die Sessel aus ihrer frühen Zusammenarbeit mit Le Corbusier.
Hinein geboren in den französischen Jugendstil Belle Époque, künstlerisch ausgebildet und ins Designerleben eingestiegen im französischen Art Déco bei gleichzeitiger Beeinflussung durch das deutsche Bauhaus, durchlebte und beeinflusste Charlotte Perriand die wichtigsten Design-Konzepte des 20. Jahrhunderts, wie eben auch das im vorliegenden Band beschriebene Mid-Century Design. Über die Jahrzehnte und verschiedenen Design-Epochen hinweg ist ihr Werk durch die Kontinuität ihrer Ansprüche an und Vorstellungen von gutem Design geprägt.
Jacques Barsac: Charlotte Perriand Complete Works. Volume 3: 1956–1968
1st edition, 2017
Hardback
528 pages, 484 color and 303 b/w illustrations
23 x 30.5 cm
ISBN 978-3-85881-748-8
In cooperation with Archives Charlotte Perriand, Paris
Scheidegger & Spiess