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Caroline Clifton-Mogg: Retro Chic

Der Untertitel „Von opulent bis farbenfroh“ könnte auch „Alles geht!“ lauten. Schließlich oszillieren die im Buch vorgestellten Interieurs und Einrichtungsobjekte zwischen diversen Stilen wie Industrial Design, Mid-Century und skandinavisches Design unter Einbeziehung anerkannter Design-Klassiker. Sie decken die gesamte Bandbreite vom pfiffigen, liebenswerten Flohmarktfund bis hin zum äußerst seltenen Sammelobjekt, das inzwischen fast nur noch im spezialisierten Handel gefunden werden kann, ab. So sieht man abgeschabte alte Tolix Eisenstühle ebenso wie edle Eames Fiberglassessel. Die gekonnte Inszenierung in den Wohnungen besteht nicht in der fantasielosen Aneinanderreihung von Objekten einer Epoche und Qualitätsstufe, sondern vielmehr im Aufbau eines Spannungsfeldes unter Verwendung stimmiger Elemente unterschiedlicher Provenienz. Oftmals findet dies in rustikalen Räumen mit Holzbalken in Decken und Wänden oder von Eisen geprägten Industriebauten statt, was dem Ganzen eine besondere Atmosphäre verleiht. Ohne jegliche Berührungsängste werden Gegensätze vereint. Neben diesen spannenden Beispielen gelungener Einrichtung mit Alt und Neu, Günstigem wie Teurem, Einzelstücken und Serienprodukten, stellt das Buch auch Highlights des Designs im 20. Jahrhundert vor.
In den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts wurden die Themen Wohnen und Einrichten gänzlich neu definiert. Am unteren Ende der sozialen Bandbreite sollten helle und gut belüftete Neubauten, Licht und Luft durchströmt, mit ausreichendem Platz die Lebensbedingungen der Arbeiter nachhaltig verbessern. Damit war der Grundstein für die radikale Umorientierung im Einrichtungsbereich gelegt. Designer, die oftmals auch technisch denkende Architekten waren, entwickelten mit Hilfe neuer Produktionsverfahren und Materialien, die im Zuge der industriellen Fertigung entstanden sind, neue Formen und Funktionen. Gebogenes Holz und Stahlrohr, verformtes Sperrholz und in Form gegossene Kunststoffe wie Fiberglasschalen eröffneten ihnen vielfache Möglichkeiten kreativen Gestaltens. Diese Entwürfe, inzwischen oftmals zu Klassikern des Möbeldesigns erhoben, werden vermehrt als Re-Editionen mit teilweise veränderten, kostensparenden Herstellungsverfahren und neuen Proportionen produziert oder beeinflussen noch immer die Gestaltung neuer Produkte. Aus dem riesigen Angebot von originalen Altem, lizensierten Nachbauten oder gänzlich Neuem bedienten sich die Einrichter der im Buch vorgestellten Wohnungen und Häuser. Die Autorin Caroline Clifton-Mogg führt dabei den Leser von ländlichen Anwesen über herrschaftliche Stadthäuser bis zu umgebauten Fabriketagen.
Als Antiquitäten bezeichnet man Gegenstände, die mindestens 100 Jahre alt sind. Mit dem Titel Retro Chic grenzt die Autorin den Fokus ihres Buches gegenüber antiken Möbeln des 19. Jahrhunderts wie dem Biedermeier oder noch früheren Epochen wie dem Barock ab. Das Jahr 1919, in dem das Bauhaus als vorbildliche und fortschrittliche Ausbildungsstätte für Architektur und Design gegründet wurde, markiert den inoffiziellen Anfang des Zeitalters, in dem die in dem Buch unter „Retro“ zusammen gefassten Objekte entstanden sind. Das Bauhaus spielte und spielt noch immer eine wichtige Rolle als Referenz für gutes Design, das nicht nur durch seine Ästhetik, sondern auch mit durchdachter Funktionalität sowie mit Schlichtheit statt opulentem Dekor begeistert. Die vom Bauhaus definierten gestalterischen Grundprinzipien wirken noch heute auf fast alle zeitgenössischen Möbelentwürfe und darüber hinaus sogar auf Produkte der Elektronikindustrie wie die „i-Geräte“ von Apple. Interessanterweise waren viele der damaligen Designer, selbst inzwischen so prominente wie Marcel Breuer oder Ludwig Mies van der Rohe, ihren Zeitgenossen weitgehend unbekannt und erlangten erst viel später den ihnen gebührenden Ruhm. Ähnlich erging es ihren Produkten. Dem Stahlrohrstuhl, in den 1920ern als fortschrittliches Sitzmöbel mit sozialem Anspruch entworfen, gelang erst später der Durchbruch. Trotz oder vielleicht auch wegen dieser Startschwierigkeiten sind viele Retro Möbel heute noch sehr populär, was die im Buch vorgestellten Lebensräume beweisen.
In den USA wurde 1932, kurz vor Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten, die Cranbrook Academy of Art gegründet, die sich wie das Bauhaus mit Architektur, Kunst und Design beschäftigen sollte. 1984 wurde dieser Schule und ihren Absolventen von der New York Times ein profunder Einfluss auf das Erscheinungsbild des Landes attestiert. Immerhin brachte sie Designer wie Charles und Ray Eames, Harry Bertoia und Eero Saarinen hervor.
Die im Frankreich der 1920er und 1930er entstandenen Entwürfe der Moderne werden heute dem Art Déco zugerechnet. Die originalen Möbel von Le Corbusier und Charlotte Perriand zählen zu den gesuchten, hochpreisigen Stücken und werden wegen ihrer großen Beliebtheit und Nachfrage in Lizenz noch immer produziert.
Die vorgenannten Architekten und Designer sind uns zwar heute weitgehend – zumindest dem Namen nach – bekannt, es wird aber häufig vergessen, welche Bedeutung ihnen und vielen anderen weniger bekannten Gestaltern zukommt. Vereint vom gemeinsamen Ideal einer neu zu gestaltenden Moderne, haben sie eine neue Ära eingeleitet, die bis heute nachwirkt. Ihre Entwürfe haben Klarheit, Einfachheit, Qualität und die Liebe zum Detail gemein. Dadurch harmonieren die Entwürfe des 20. Jahrhunderts mit Möbeln und Leuchten sowohl aus früheren Epochen als auch mit aktuellen Konzepten.
Die Qual der Wahl! Das kaum überschaubare Angebot an interessanten Möbeln der letzten 100 Jahre macht die Auswahl einzelner Stücke und ihre Kombination nicht leicht. Hier gibt die Autorin Hilfestellung und definiert „Spielregeln für den Retro-Look“. Eindrucksvoll wird bildlich dargestellt, dass selbst Möbel aus dem 18. Jahrhundert und Kreationen des 20. Jahrhunderts ein zeitloses, elegantes Paar ergeben können, egal ob vor dem Hintergrund eines rustikalen Landhauses, eines modernen Industrie-Lofts oder einer eleganten Stadtwohnung mit hohen Decken, Flügeltüren und Stuck. Da viele der Stücke einen ausgeprägten individuellen Charakter besitzen und für die ihnen zustehende Geltung viel Raum beanspruchen, genügen meist einige, wenige gut ausgesuchte Objekte. Aber auch die Möblierung begrenzten Wohnraums, unter dem aktuell deutsche Großstädter leiden, kann von den Bildbeispielen im Buch hinsichtlich Individualität und Absetzen vom ‚mainstream‘ der großen Möbeldiscounter profitieren.
Konkret betrachtet die Autorin rustikale Objekte wie alte Bauernhäuser, Stallungen oder Scheunen und deren urbane Pendants: Werkstätten, Fabriken und Lagerhäuser. Bei beiden finden sich spezielle Besonderheiten. Viel sichtbares Holz wie Balken und Böden ist charakteristisch im rustikalen Umfeld, Metall und Glas sowie großzügige Dimensionen dominieren im industriellen Umfeld. Wichtig ist hierbei die vorgefundenen Farben und Materialien zu respektieren und aus dem großen Fundus des 20. Jahrhunderts die passenden Einrichtungsobjekte auszuwählen. Dabei helfen die zahlreichen Wohnbeispiele im Buch wie die „Normannische Werkstatt“, „Reduziertes Country“, „Fabrik der Fundstücke“, „Gekalkte Wände“, „Urban Bohème“ oder „Industrie Light“.
Neben der Form spielt auch die Farbe eine zentrale Rolle, wenn Design oder Architektur gelingen soll. Am Bauhaus beschäftigte sich der russische Maler Wassily Kandinsky mit diesem Thema und entwickelte seine eigene Farbenlehre, bei der besonders der Zusammenhang zwischen Form und Farbe heraus gearbeitet wurde. Aber auch der Schweizer Baumeister und Designer Le Corbusier hat die kommunikativen Möglichkeiten der Farben genutzt und entwarf schon in den 1930er Jahren für den häuslichen Bereich seine erste Farbpalette für einen Schweizer Farbenhersteller. Im Buch werden in den Wohnbeispielen „Hommage an Le Corbusier“ und „Konservierte Fünfziger“ farbenfrohe Räume mit teils kräftigen Farben präsentiert. Das Wohnbeispiel „Grafisches Design“ überrascht den Lesern mit einem stark Fifties geprägtem provenzialischen mas, einem französischen Landhaus, bei dem auch ausgeprägte Farben wirken. Weitere Inspirationen geben neben weiteren die Wohnbeispiele „Refugium des Dekorateurs“, „Stil von Jahrhunderten“ oder „Internationale Exzentrizität“, deren Titel schon neugierig machen.

Im Kapitel „Liebe zum Detail“ richtet die Autorin ihre Aufmerksamkeit auf Möbel, Beleuchtung, Textilien, Bodenbeläge und Deko-Objekte, deren Zusammenspiel letztendlich das Gelingen eines Einrichtungsprojekts entscheidet. Im abschließenden Kapitel „Raum für Raum“ werden für die Lebensräume Wohn-, Ess-, Schlaf- und Badezimmer einzeln Einrichtungstipps gegeben.

Robert Musil schreibt in seinem 1930, also zu Beginn des Retro-Zeitalters, erschienenen Werk ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘: „Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist“. Dieser Satz trifft im Besonderen auf die in diesem opulent bebildertem Buch vorgestellten Einrichtungen zu, sind sie doch so individuell zusammen gestellt, dass sie viel über die Persönlichkeit ihrer Bewohner erzählen können. Die Auswahl der Stücke und der Kontext, in den sie gesetzt wurden, machen die Wohnungen einzigartig und facettenreich. Nach der Lektüre der abwechslungsreichen 224 Seiten kann man die Freude nachempfinden, die die Einrichter beim Auffinden und Platzieren jedes einzelnen Objekts verspürten. Wenn schon unsere Innenstädte durch die Shops globaler Handelsketten ihre Einzigartigkeit für austauschbare Uniformität aufgegeben haben, so bilden zumindest im privaten Rückzugsbereich facettenreiche Gestaltungen ein Gegengewicht.