Die Geschichte der Kinderbücher ist faszinierend und spiegelt die Entwicklung von Kultur, Bildung und Gesellschaft wider. Schreiben und Lesen sind wichtige Voraussetzungen, um sich in der Welt zurecht zu finden. Kinder lernen heute oft schon im Vorschulalter diese wohl wichtigsten Kulturtechniken. Mit spannenden Geschichten in anregend illustrierten Kinderbüchern versucht man sie fürs Lesen zu interessieren und begeistert oftmals die Erwachsenen gleich mit. Die Neue Sammlung in der Pinakothek der Moderne in München zeigt vom 11. Oktober 2024 bis zum 26. Januar 2025 mehr als 170 Kinderbücher aus über 25 Ländern und spannt den Bogen von 1870 bis in die Gegenwart. Für das Designmuseum ist auftragsgemäß die Gestaltung der Bücher und nicht ihre Erzählungen von Interesse. Dabei kann das Museum auf seinen eigenen reichhaltigen Bestand von etwa 750 Exemplaren internationaler Kinderbücher zurückgreifen, der durch vorausschauende Konservatoren und Direktoren von Beginn an – also seit 100 Jahren – gesammelt und in Ausstellungen gezeigt wurde.
Die Anfänge
Solange die meisten Menschen Analphabeten waren, also bis weit in die Neuzeit, bestand kein Bedarf an Kinderlektüre. In der Antike und im Mittelalter waren Kinderbücher kaum existent. Bildung war in der Regel auf den Adel und den Klerus beschränkt, und wenn Kindern Literatur zugänglich war, handelte es sich oft um religiöse Texte oder klassische Werke, die nicht unbedingt speziell für Kinder geschrieben waren. In Europa kamen Kinder meist nur in Klosterschulen in den Kontakt zur Literatur, dort aber nicht zur Unterhaltung, sondern zur religiösen Anleitung mit dem Nebeneffekt der Alphabetisierung.
Mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert begann sich die Literatur allmählich zu verbreiten. Im 16. Jahrhundert wurden erste pädagogische Werke für Kinder veröffentlicht, oft mit moralischen und religiösen Inhalten. Im 17. Jahrhundert erschienen die ersten „echten“ Kinderbücher, wie z.B. die „Fabeln“ von La Fontaine. Im 18. Jahrhundert entstanden Werke wie „Die Geschichte von der schönen und der hässlichen Prinzessin“ von Heinrich von Gagern, die sowohl Unterhaltung als auch Moral vermittelten.
Historische Entwicklung der Kinderliteratur
Erst im 19. Jahrhundert begann sich die Kinderliteratur stark zu entwickeln. Autoren wie die Brüder Grimm sammelten und veröffentlichten Volksmärchen, die einen bleibenden Einfluss auf die Kinderliteratur hatten. „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll (1865) und „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ von Mark Twain (1876) gehören zu den bekanntesten Werken dieser Zeit. Sie brachten eine neue Art von Fantasie und Abenteuer in die Kinderliteratur, das „Kopfkino“ öffnete sich den Kindern und Jugendlichen. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Spielbilderbücher, dreidimensionale und interaktive Kinderbücher wie von Lothar Meggendorfer (1847–1925), der verschiedene bereits existierende Zieh- und Klappmechanismen perfektionierte, um interaktive Objekte zu schaffen, die Bilderbuch und Spielzeug zugleich sind. Spielend Lesen lernen!
Das 20. Jahrhundert sollte das Goldene Zeitalter für Kinderbücher werden. Autoren wie Roald Dahl („Charlie und die Schokoladenfabrik“), J.K. Rowling („Harry Potter“) und Astrid Lindgren („Pippi Langstrumpf“) schufen Klassiker, die nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene in ihren Bann zogen. Zugleich nahm die Bedeutung von Illustrationen in Kinderbüchern zu. Bereits seit dem späten 19. Jahrhundert boten Kinderbücher den Gestaltern die Möglichkeit sich kreativ frei zu entfalten und die Erzählung selbst mitzugestalten. Künstler wie Beatrix Potter, Maurice Sendak und Eric Carle haben die Gestaltung von Kinderbüchern revolutioniert und visuelle Geschichten erzählt.
Anfang des 20. Jahrhundert etablierte sich das „moderne“ Bilderbuch, bei dem Text und Bild untrennbar vereint sind. Diese frühesten Kinderbücher wurden von der 1925 gegründeten Neuen Sammlung bereits 1927 in einer ersten Sonderausstellung mit Werken aus der Sowjetunion, Ungarn, England oder Schweden gezeigt. Verschiedene Erneuerungsbewegungen in der angewandten Kunst wie Jugendstil oder die Arts-and-Crafts-Bewegung, beeinflussten die Kinderbuch Gestaltung. Der großformatige „Babar der Elefant“ von Jean de Brunhoff setzt mit seitenfüllenden Illustrationen ab 1931 Maßstäbe für die folgenden Jahrzehnte. Unterbrochen durch die Zeit des Nationalsozialismus, erlebt das Kinderbuch ab den 1950er Jahren einen enormen Aufschwung durch eine zunehmende Zahl von Grafikdesignern wie Leo Lionni oder Heinz Edelmann, die im Kinderbuch einen Ausgleich zu ihrem kommerziellen Broterwerb sahen. Die damaligen Designtrends Pop-Art und Space Age Design grüßen aus den Bilderbüchern.
Vielfalt und Inklusion sind im 21. Jahrhundert bei Kinderbüchern zunehmend wichtiger geworden. Es gibt mehr Bücher, die kulturelle Vielfalt und unterschiedliche Lebensrealitäten widerspiegeln. Themen wie Geschlechterrollen, soziale Gerechtigkeit und Inklusion werden in modernen Kinderbüchern behandelt. Insgesamt hat sich die Kinderliteratur von moralischen Lehrbüchern hin zu einer Form der Unterhaltung entwickelt, die Kindern hilft, die Welt zu verstehen und ihre Fantasie zu entfalten.
Die Ausstellung
Namensgebend für die Ausstellung „Wo die wilden Striche wohnen“ ist das Kinderbuch „Where the wild Things are“ („Wo die wilden Kerle wohnen“) des US-amerikanischen Autors und Illustrators Maurice Sendak aus dem Jahre 1963. Die Ausstellungsarchitektin Carina Deuschl nahm dies wörtlich und lässt die Bücher in häuserförmigen Schränken „wohnen“, die die empfindlichen Exponate vor Lichteinfall schützen und gleichzeitig ausgewählte Bücher von kleinen und großen Besuchern in voller Länge entdeckt werden können.
Zwei Teile mit jeweils vier Kapiteln gliedern die Ausstellung. Der erste Teil beginnt mit den um 1900 entstandenen Spielbilderbücher von Lothar Meggendorfer, an die sich drei chronologisch angeordnete Vitrinen Gruppen anschließen, die weiter von 1900 bis in die Gegenwart mit englischen, französischen, finnischen sowie einem estnischen und einem lettischen Kinderbuch führen. Durch das breite nationale wie internationale Spektrum werden Entwicklungen und Stile in der Gestaltung offenbar.
Im zweiten Teil liegt der Fokus auf der Gestaltung, wobei vier verschiedene Prinzipien und Merkmale besprochen werden. Das erste ist der gezielte Einsatz von Farbe bzw. ihrer Abwesenheit im Schwarzweiß sowie das Spiel mit drei Farben und Primärfarben bis hin zur Farbexplosion. Eine zweite Gruppe widmet sich Büchern, in denen Schrift, Zahlen oder ganz bestimmte Formen, wie beispielsweise Punkte oder Quadrate, zum Gestaltungsprinzip erhoben sind. Die dritte Abteilung mit der Überschrift Perspektive vergleicht Kinderbücher, die von den üblichen Sehgewohnheiten abweichen, indem sie aus der Perspektive von Zwergen oder Riesen erzählen, aus der Vogelperspektive die Welt betrachten oder aber ganz nah an ihre Protagonisten heran zoomen. Im letzten Bereich wird es mit dem Thema Raum dreidimensional mit Büchern mit durchbrochenen Seiten sowie Klapp- und Legebücher bis hin zum Pop-Up-Buch.
Die Ausstellung zeigt die enorme Bedeutung von Kinderbüchern, die der geistigen Entwicklung von Kindern dienen, den Alltag beschreiben und Fantasiewelten entstehen lassen. Dabei unterhalten sie und vermitteln gleichzeitig Wissen. Zunehmend stehen sie leider in Konkurrenz zu Smartphones & Co., die oftmals mehr Aufmerksamkeit erfahren.
ORT: PINAKOTHEK DER MODERNE, 2. OG DER ROTUNDE
11.10.2024 – 26.01.2025
Foto: Die Neue Sammlung (K. Mewes, J. Minne)