Bis 11. Mai 2025 lädt die Neue Sammlung – The Design Museum zum (Probe-)sitzen in die Rotunde, die großzügige Eingangshalle der Pinakothek der Moderne in München ein. Im Rahmen des Rotundenprojekts Nr. 9 „Social Seating“ entwickelte das Museum ein Konzept mit 15 Sitzobjekten internationaler Designer datierend von den 1950er Jahren bis heute, das „Sitzen als kollektives Erlebnis“ und „Sitzen als Kommunikationsform“ thematisiert. Es soll dabei nicht nur der Sitzkomfort der sehr unterschiedlichen Sitzmöbel erfahren und das Verhältnis der Menschen zum Sitzen hinterfragt werden, vielmehr soll unter dem Motto Social Seating Kommunikation im musealen Raum stattfinden. Die Interessierten dürfen was sonst strengstens verboten ist: die Exponate berühren! Und darauf sitzen, liegen, lümmeln ist nun ausdrücklich erwünscht! Überraschung: und das alles bei obendrein kostenlosem Eintritt in den Eingangsbereich des Museums vor den eigentlichen Ausstellungsräumen.
Die Idee
Die Ausstellung „Social Seating“ changiert in faszinierender Weise zwischen Kunst, Design und sozialer Interaktion. Sie lädt unter der spektakulären Konstruktion des Rotunden Dachs dazu ein, über die Bedeutung von Möbeln und Sitzgelegenheiten in unserem Alltag nachzudenken und ihren Einfluss auf zwischenmenschliche Kontakte zu reflektieren. In unserer von digitaler Kommunikation geprägten Welt, ist dies ein Versuch die physische Interaktion wieder mehr zu beleben und der inzwischen verbreiteten Vereinsamung entgegen zu wirken. Nach dem Motto: Mehr Stammtisch als Chatroom!
Als zentrales Thema wird auch die Frage gestellt, wie sich die Gestaltung und Anordnung von Sitzgelegenheiten sowohl im öffentlichen als auch privatem Raum auf das soziale Verhalten auswirken, nicht unwichtig in Zeiten breiter Radikalisierung von Meinungen und dem stetigen Verlust bisher geschätzter Umgangsformen. Manche Designs befördern ein Gemeinschaftsgefühl, andere begünstigen die Isolation. Die verschiedenen Installationen verdeutlichen, inwieweit auch der Raum um uns herum wichtig ist und wie er unsere Interaktionen beeinflusst.
Der Begriff
Die Neue Sammlung hat sich den Begriff „geliehen“ und umgedeutet. „Social Seating“ war eigentlich als Marketing Instrument angedacht, das die soziale Vernetzung fördern soll und gleichzeitig den Anbietern Informationen über ihre Kunden liefert. Als eine Art sozialer Netzwerkdienst ermöglichte es den Teilnehmern, Sitznachbarn mit ähnlichen Interessen zu bekommen. Auf der Grundlage ihrer persönlichen Vorlieben oder Profilen in sozialen Netzwerken wie Facebook, LinkedIn oder X (früher Twitter) wurde ausgewählt. Es war ein freiwilliges Angebot (Opt-in-System), das nur mit Zustimmung Informationen abruft und bei einigen wenigen Fluggesellschaften wie vor allem KLM und Malaysia Airlines oder bei Veranstaltungen zur Wahl von Sitznachbarn verfügbar war.
Die Ausstellung
Die Auswahl der unterschiedlichen Sitzmöbel geschah nicht nur nach Museums Kriterien, sondern auch nach dem Aspekt als sozialer Katalysator. Sie ist mit klassischen Designs bis hin zu zeitgenössischen Kreationen so kuratiert, dass sie verschiedene Gesichtspunkte des sozialen Miteinanders beleuchtet. Damit geht sie über den Rahmen einer gewöhnlichen Möbelausstellung hinaus und bietet Raum und Möglichkeiten über die Art und Weise unseres Zusammenlebens und unserer Kommunikation nachzudenken. Die Menschen sollen sich spontan und zufällig begegnen und im Idealfall miteinander ins Gespräch kommen, falls nicht gerade ihr digitales Endgerät ihre Aufmerksamkeit beansprucht. Neben der Erfahrung dieses kollektiven Sitzens wird auch das Umdenken der Möbelindustrie im Industriedesign in Bezug auf Material und Nachhaltigkeit in den letzten Jahrzehnten sichtbar.
Das älteste und rustikalste Objekt ist die klassische 2,20 Meter lange hölzerne Bierbank des Holz-Fabrikanten Rudolf Kurz aus dem Jahr 1952. Das von ihm erfundene Klappmöbelschloss erlaubt den Auf- und Abbau durch auf- oder einklappen der metallischen Füße in Sekunden, ebenso die platzsparende Aufbewahrung. Diese Bierbänke mit entsprechenden Tischen gehören heute zur Grundausstattung fast aller bayerischen Biergärten und lösten vor ungefähr 50 Jahren die Stühle auf dem Oktoberfest in München ab. Mindestens 10 Menschen finden an so einer geselligen Garnitur aus zwei Bänken mit Tisch Platz.
Das Stone Mimicry oder zu Deutsch Stein Nachahmung der Künstlerin Kerstin Brätsch aus dem Jahr 2024 ist ein Kunstwerk, auf dem man sitzen kann. Es gehört zu einem Projekt für das Kunst-Museum in Aspen/USA. Die ganze Bank hat ein Glas-Mosaik, in dem man einen Toten-Kopf erkennen kann. Mit Glas-Mosaiken erweitert die Kunst-Malerin ihr künstlerisches Repertoire.
In einem der berühmtesten Museen Frankreichs, dem Centre Pompidou in Paris, steht das Holz-Modell für einen Turm vom russischen Künstler Wladimir Tatlin. Sein Turm Entwurf stammt aus dem Jahr 1919 für ein nie realisiertes konstruktivistisches Denkmal, das an die russische Oktoberrevolution 1917 erinnern sollte. Die Designer Mario Cananzi und Roberto Semprini ließen sich von ihm für das Sofa Tatlin (1989) inspirieren. Durch die Form einer Spirale kann man von allen Seiten auf dem Sofa Tatlin, einem Meisterwerk auch der Architektur, sitzen und es als modernes Totem in den Raummittelpunkt zentrieren.
Vor über 60 Jahren begann das Pop-Art Design und mit ihm die Plastik Ära. Der Kunststoff faszinierte die Designer durch seine nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Formgebung. Mit ihrem mehr Kunst- als Sitzobjekt Pratone (1966) traf die Gruppo Strum den Zeitgeist der revolutionären 1960er Jahre. Das steife und aufrechte Sitzen war in der jungen Generation verdächtig und auf dem Pratone überhaupt nicht möglich. Der mit einer Art Gummilack überzogene Pratone sieht vielmehr aus wie ein Stück grüner Rasen mit großen Grashalmen aus der Perspektive eines Dackels. Mutige dürfen beherzt in diese Wiese springen, allerdings in der Ausstellung in ihrer Neuauflage mit einem Textilbezug und dem Namen „Pratone Forever Greener“. Übersetzt bedeutet der Name etwa „Für immer grüner“, was man in Zeiten des Klimawandels getrost beherzigen sollte.
Die Sitz-Schlange DS-600 (1972) kann als Element-Garnitur nach Gutdünken ausgebaut und (um-)gestaltet werden. Beliebig viele Polstersegmente lassen sich mit Reißverschlüssen miteinander verbinden. Durch diese Verbindung ist sie sehr beweglich, kann streng gerade oder gekurvt wie eine Schlange, gestellt werden. Gebaut aus wertvollem Leder und mit höchster handwerklicher Präzision ist die Schlange der Designer Ueli Berger, Eleonore Peduzzi Riva, Heinz Ulrich und Klaus Vogt eine anpassungsfähige und höchst variable Sitzgelegenheit. Ihre lange Marktpräsenz seit 1972 ist außergewöhnlich.
Den Gedanken der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an verschiedene Wohnbedürfnisse nimmt auch das modulare Sofa Costume (2021) von Stefan Diez und Dominik Hammer auf. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit besteht es zur Hälfte aus recyceltem und später wiederverwendbarem Polyethylen, ganz im Sinne einer Kreislaufwirtschaft. Mit äußerst geringer Schadstoffbelastung findet es in Schulen, Kindergärten und Kliniken Verwendung. Die verschiedenfarbigen Einzelteile, Module genannt, kann man zu einem größeren Sofa verbinden und mit Arm- und Rückenlehnen ergänzen.
Der Münchner Designer Konstantin Grcic entwarf für Vitra die Sitz-Bank Landen (2007). Über zwei Stufen kommt man in den „inner circle“ und zu den Sitzgelegenheiten, die kreisförmig angeordnet sind. Die Bank erinnert wie das Ufo ähnliche Futuro Haus vor dem Museum an ein gelandetes Raumschiff. Mit seinen Kanten unterscheidet sie sich deutlich von den gewohnten runden Möbel im Outdoor Bereich. Sie soll im öffentlichen Raum auf Plätzen stehen und Menschen zum Gespräch animieren, wobei sie sich gleichzeitig auf der Bank zurückziehen und abschirmen können: Inner Circle!
Auf den ersten Blick erscheint das Sitzobjekt Social Softy (2024) von Simon Stanislawski alles andere als weich und einladend, eher abweisend wie ein blauer Fels. Schaumstoff aus gebrauchten, bereits zur Entsorgung bestimmten Matratzen, wird zu einem aus mehreren Quadern bestehenden Stapel geschlichtet und verklebt, um diesem dann in bester Bildhauermanier von Hand gezupft die gewünschte schroffe und felsenartige Form zu geben. Die Oberfläche wird mit einem Lack überzogen, der dem Objekt eine Lederanmutung verleiht und den Schaumstoff verbirgt. Das Ergebnis ist eine überraschend weiche Sitzgelegenheit, etwas „geselliges Weiches“, womit man Social Softy übersetzen könnte. Zugleich ist es ein ausdrucksstarkes Statement für die Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Ästhetik sowie gegen gedankenlose Materialverschwendung.
Das Spielmöbel Wave (2014) von Damjan Uršič ist die high-end Version des morgendlichen Stuhlkreises im Kindergarten. Die acht Elemente der Welle bilden einen Kreis, sie können aber auch zu einer welligen Linie kombiniert werden, auf der die Kinder sitzen oder liegen können. Die Umbauten der leichten Elemente können die Kinder selbst nach eigenen Vorlieben vornehmen, die verspielte Form regt die Kinder zum Spielen und Denken an.
60er Jahre feeling entsteht auf der bunten Sitzlandschaft Cloverleaf (1969) vom dänischen Designer Verner Panton, der das Pop-Art Design entscheidend mitgeprägt hat. Wie das am 25. August 1967 offiziell in Deutschland gestartete Farbfernsehen brachte die Farbexplosion seiner modularen Sitzlandschaften fröhliche Farben in die bis dahin grauen Heime. Das Kleeblatt animiert zum spielerischen Sitzen, Liegen und ungezwungenen Kommunizieren. Die emotionale Stimmung der (Be-)Sitzer wird bewusst durch Pantons Farbspektrum beeinflusst. Pure Lebensfreude!
Nur neun kompliziert ineinander gesteckte Teile benötigt Beat Franks Kunstobjekt Sitz-Kreuz (1988). Zwei lange Sitzflächen liegen wie ein Kreuz so übereinander, dass von einem Zentrum aus alle Seiten offen sind. Das Sitz-Kreuz ist eine künstlerische Möbelproduktion, die archaisch und simpel anmutet, gleichzeitig technisch anspruchsvoll realisiert ist.
Egal welches der Objekte man zum Lieblingsstück erkoren hat, bei allen begegnet man sich auf Augenhöhe. Anders als die Fürsten und Könige, die sich durch ihren erhabenen Thron zur Machtdemonstration erhöhten. Dieses Prinzip hat Charlie Chaplin in seiner Hitler Parodie The Great Dictator bereits 1940 entlarvt, als sich die beiden der Lächerlichkeit preis gegebenen Diktatoren Hitler und Mussolini wechselseitig gen Himmel hochschraubten, nur um kurz über dem anderen zu sitzen.
Fotos: Die Neue Sammlung (Kai Mewes)