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Ins Freie

Ins Freie (SJ)

(Sammler Journal 02/2022)

Zurück zur Natur oder zumindest raus „Ins Freie“, an die frische Luft, war eine der Begleiterscheinungen der Pandemie ab dem Frühjahr 2020. Mangels anderer Optionen zur Freizeitgestaltung drängte es die Städter ebenso wie die Landbevölkerung hinaus ins Grüne, wo sie zum Verdruss der Ansässigen Berge und Seen überliefen. Wer trotzdem nicht raus aus seiner geliebten Stadt wollte, konnte in München in den mit gestalterisch meist fragwürdigen „Schanigärten“ möblierten Straßen sein frisch Gezapftes im Freien genießen. Die Neue Sammlung, das Designmuseum in der Pinakothek der Moderne in München, widmet sich diesem aktuellen Thema und betrachtet das Treiben im Freien mit dem Fokus auf dessen Gestaltung ab dem 29.10.2021 in der permanenten Ausstellung „Ins Freie“.

Das Museum richtet mit „Ins Freie“ den Blick auf einen Urtrieb des Menschen, der durch die Covid-19 Pandemie neue Bedeutung erreichte: der Drang raus aus der gebauten Zivilisation. Dabei muss es nicht immer die wilde Natur sein, oft reicht der Aufenthalt im eigenen Garten oder öffentlichen Park zur Entspannung und Erholung. Im Gegensatz zu vielen anderen Wirtschaftszweigen boomte die gesamte Outdoor Branche, Corona wirkte besonders auf den Fahrradabsatz wie ein Katalysator.

Die christlichen Religionen lehren uns, dass das Leben in einem Garten, dem Garten Eden, begann. Dort gab es höchstwahrscheinlich keine Häuser, schon Adam und Eva lebten in paradiesischen Zuständen im Freien. Wissenschaftliche Schätzungen von Evolutionsbiologen legen nahe, dass die Menschen circa 300000 Jahre in der Wildnis, meist im Wald, lebten. Das Bedürfnis nach einem „Dach“ über dem Kopf ließ die Menschen später in Höhlen oder mobile Zelte ziehen, noch später folgten feste Unterkünfte. Durch Häuser Ansammlungen entwickelten sich Dörfer und Städte. So groß die Annehmlichkeiten und Vorteile einer festen Bleibe auch sind, die ursprüngliche Sehnsucht für den Aufenthalt im Freien, in die Fantasie anregende Natur und an die gesunde Luft, ist ungebrochen und fest einprogrammiert. Die urzeitliche Erfahrung oder Lebensweise flackert beim Grillen auf, ebenso beim Sammeln von Muscheln, Steinen oder Ästen, die das Heim dekorieren.

Die Ausstellung der Kuratorin Polina Gedova und des Kurators Christopher Haaf beleuchtet mit ebenso überraschenden wie vielfältigen Exponaten aus den umfangreichen Beständen des Design Museums die Themen Freizeit, Reisen und Erholung in den sieben Kapiteln. Bei der Ausstellungsgestaltung wurde das Kuratoren Team vom Designer Hannes Gumpp unterstützt. Der Weg führt die Besucher, wie über einen See, auf einem Steg durch den Ausstellungsraum und bietet verschiedene Perspektiven auf die diversen Schwerpunkte und Zeiten. Der Steg besteht wie die gesamte nachhaltige Ausstellungsarchitektur aus recycelbarem und wiederverwendbarem Material. Die Exponate zeigen anschaulich, dass das Design nicht isoliert für sich in einer Blase existiert, sondern immer im Kontext seiner Zeit und gesellschaftlichen Verhältnisse steht. Sehr deutlich wird dies am Material Kunststoff gezeigt, das zunächst viele Designer inspirierte und völlig neue Formen ermöglichte. In den 1960er Jahren war der Kunststoff ein Versprechen auf goldene Zeiten im Möbel und Konsumgüter Design, heute ist es ein enormes Umweltproblem, das die Industrieländer zunächst in Entwicklungsländer ausgelagert haben und nun endlich mit der Abschaffung überflüssiger Kunststoffprodukte wie etwa Plastikstrohhalmen reagieren. Nachhaltiges Design, vom Ende des Lebenszyklus hergedacht und die Wiederverwertung des Materials schon beim Design berücksichtigen, ist nun das Gebot der Stunde.

Kapitel 1: Drinnen = Draußen

Alle Jahre wieder holen wir uns mit einem Baum an Weihnachten ein Stück Grün von Draußen nach Drinnen. Genauso regelmäßig wird die Natur im Design zitiert. Sehr ausgeprägt findet man diese Inspirationsquelle vor über 100 Jahren im Jugendstil, wo Flora und Fauna mit Blüten und Käfern für Designer und Architekten wie dem Belgier Henry van de Velde die Vorlagen für Möbel und Objekte lieferten und auf diese Weise die Natur bildlich im Heim Einzug hielt. Jahrzehnte später beförderte in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren die Zusammenarbeit der Designer Guido Drocco und Franco Mello mit der italienischen Firma Gufram das Draußen in Form des 170cm hohen Garderobenständers „Cactus“ nach drinnen. „Cactus“ ist eine Ikone des italienischen Designs, die die Grenze zwischen Innenraum und Außenbereich verschwimmen lässt. Er sieht aus wie ein ironisches Totem und steht stellvertretend für die Fantasie und den Humor des Designs der 1970er Jahre. Der strenge Funktionalismus wird hier ersetzt durch ein funktionales Objekt, das angelehnt an die Pop-Art gleichzeitig als fröhliches Dekorationsstück dient. Das skulpturale Objekt aus dem ab den 1960ern begehrten Kunststoff spiegelt die Begeisterung für neue Materialien und den damit verbundenen Wertewandel in der Gesellschaft wider.

Kapitel 2:  Sitzen im Freien

Unsere romantischste Vorstellung vom Sitzen im Freien ist wohl die auf Baumstämmen um ein Lagerfeuer herum sitzende Gruppe. Auf Dauer sind diese aber als Sitzgelegenheit unbequem und unpraktisch. Im 19. Jahrhundert waren wetterfeste (Klapp-)Stühle aus der Materialkombination Eisen und Holz die bevorzugte Alternative wie der um 1900 datierende Gartenstuhl von August Kitschelt’s Erben (Österreich-Ungarn). Ausgestellt sind noch weitere ähnliche Exemplare aus der Zeit zwischen 1880 und 1950. Das fortschrittliche Material Kunststoff sollte mit seinen knalligen Farben und organischen Formen wie bei Luigi Colanis Gartenliege (1967) ab den 1960er Jahren mit preiswerten Möbeln den Markt erobern. Der Gartensessel „Sunball“ von Herbert Selldorf und Günter Ferdinand Ris aus dem Jahr 1969 zeugt mit seiner visionären Kugelform im „Space Age“ Design von der Begeisterung für die Raumfahrt mit ihren spektakulären Erfolgen wie der Mondlandung. Jahrzehnte später und um die Erfahrungen mit Plastikmüll reicher entstand 2011 der nachhaltige Stuhl „Chubby Chair“ des Designers Dirk van der Kooij aus recyceltem Kunststoff hergestellt im 3D-Druckverfahren, ganz im Sinne einer Kreislaufwirtschaft. Für die bessere Nachhaltigkeit entwirft das heutige Möbel-Design Objekte, die drinnen wie draußen genutzt werden können.

Kapitel 3: Camping in der DDR

Camping war zu Zeiten des geteilten Deutschlands beliebt in Ost und West. In der DDR hatte es jedoch einen noch höheren Stellenwert als in der BRD, deren Bürger sich bereits Pauschalurlaube rund um den Globus leisten konnten. Nur wenigen Privilegierten im Arbeiter- und Bauernstaat standen zum einen einige ausgesuchte sozialistische Bruderländer zur Auswahl, zum anderen war der Urlaub im Hotel ohnehin oft unerschwinglich. Nachdem die großen Probleme der Nachkriegszeit wie etwa der Wohnungsmangel in der DDR überwunden waren, stieg das Interesse für kostengünstige Campingurlaube im eigenen Land oder – noch beliebter – im sozialistischen Ungarn in den 1960er Jahren. Camping versprach Freiheit, Individualität und ein Naturerlebnis im starken Kontrast zum grauen Alltag der Werktätigen, besonders bei der in der DDR weit verbreiteten und beliebten Freikörperkultur. Die Sängerin Nina Hagen mit der Band Automobil bringen all dies in ihrem (Anti-)Schlager „Du hast den Farbfilm vergessen“ (1974) auf den Punkt. 2010 erklärte Nina Hagen die darin versteckte Kritik an der DDR in ihrem Buch Bekenntnisse (S.165) folgendermaßen: „Der Farbfilm atmet im Hintergrund das giftige Grau von Bitterfeld und die Tristesse von Leipzig; es spiegelt die Trostlosigkeit der Arbeitswelten zwischen Akkordschraube und Herumlungern an kaputten Maschinen; es spielt im Milieu einer irren Sehnsucht danach, dieser Schwarzweißwelt zu entfliehen, hin zu Orten voll Farbe und Licht. Da sind die kleinen Fluchten in die Natur, ans Meer, an die endlosen Sandstrände der Ostsee – Rügen, Usedom, Hiddensee -, Fluchten ins private Glück, in ein bisschen erotische Freiheit, die zum Guckloch des Paradieses werden.“

Da die Ausrüstung mit Bus, Bahn oder bestenfalls mit dem eigenen Trabant oder Wartburg transportiert werden musste, waren die Camping Utensilien leicht und robust sowie falt-, klapp- und stapelbar. Die Ausstellung zeigt Angler- und Campinghocker aus Metall und Textil, die in den 1970er Jahren in der DDR verkauft wurden sowie Eierbehälter des Designers Horst Giese für das leibliche Wohl aus dem Jahr 1960, die im Volkseigenen Betrieb Plastverarbeitungswerk Schwerin produziert wurden. Die in der Ausstellung auch präsentierten Isoliergefäße, Isolierkannen, Campinggeschirr und Radiogeräte zählten zur Grundausrüstung beim Zelten.

Kapitel 4: Mobilität / Urbane Mobilität / Mobilität und Bewegung

Die Neuausrichtung der individuellen Fortbewegung, besonders im dicht bevölkertem städtischen Raum, ist essentieller Bestandteil der drängenden Bemühungen im Rahmen der Energiewende. Das nahende Ende des nicht nur bei den Deutschen beliebtesten Fortbewegungsmittels, des eigenen Autos mit Verbrennungsmotor, scheint beschlossene Sache zu sein. Ein rascher und gleichwertiger Ersatz soll das batteriebetriebene Auto mit Elektromotor werden. Das auch von der Erderwärmung angestoßene Umdenken hat neue Arten der Mobilität hervorgebracht. Elektrische Fahrräder vom e-Mountainbike bis hin zum elektrischen Lastenfahrrad eilen zu immer neuen Verkaufsrekorden. Trendbewusste Städter rollen stehend auf eScootern durch die Straßen. Neben diesen diversen Fahrzeugen der Elektromobilität gibt es auch neue Geschäftsmodelle wie das Sharing-Prinzip, bei dem man kein Fahrzeug mehr besitzt, sondern sich nur eines im Bedarfsfall temporär ausleiht.

Die Neue Sammlung zeigt das Skateboard „Gridboard“, ein Sportgerät aus zum Teil Carbonfaserverstärktem Kunststoff und Metall von Michael Schmidt-Gabriel aus dem Jahr 2014 gefertigt bei Hyve (Deutschland). Schneller unterwegs ist man seit 2017 mit dem Fahrrad „Tour“ der Designer Christoph Fraundorfer und Heinz Mayrhofer. Trotz aller redlichen Bemühungen um den Umweltschutz sind die Innovationen in diesem Bereich auch mit Umweltverschmutzung belastet, wie zum Beispiel die massenhaft in Flüssen wie der Seine in Paris versenkten eScooter, die regelmäßig geborgen werden müssen. Nicht zu vergessen die Unmengen an ausgedienten Akkus.

Kapitel 5: Park & Pandemie / Pandemie und öffentlicher Raum

Während der Lockdowns gewannen öffentliche (Frei-)Räume wie Stadtparks und Grünflächen enorm an Beliebtheit und Bedeutung. Man erinnert sich noch an die Bilder von Menschen auf Parkbänken, die zu zweit jeweils am linken und rechten Ende saßen um ja den vorgeschriebenen Mindestabstand zu wahren. Aus diesem Social Distancing heraus entstand die ironische Sitzbank „CoronaCrisisKruk“ von Björn van den Broek aus dem niederländischen Designstudio Object Studio, die im Jahr 2020 die Einhaltung des gesetzlichen Mindestabstands sicherstellte. Außerhalb der Pandemiezeiten dienen öffentlich zugängliche Parks als soziale Orte der Begegnung der entspannten Erholung oder sportlichen Betätigung. In diesem Themenkomplex werden neben der oben beschriebenen Parkbank weitere experimentelle Lösungen zur Einhaltung der Abstandsregeln und Müllentsorgung im öffentlich Raum vorgestellt.

Kapitel 6: Sport & Bewegung

Gesunder Geist in gesundem Körper wurde schon von den alten Römern propagiert. Gerade Outdoor gibt es viele Möglichkeiten die Fitness zu trainieren. Die Neue Sammlung kann im Sammlungsbereich Sport auf Exponate aus vielen Sommer- und Wintersportarten zugreifen. Wegen der Nähe zu den Alpen werden neue Entwicklungen beim Klettern, Kajakfahren, Rodeln und Skifahren besonders aufmerksam beobachtet und gesammelt. Hier finden sich fantastische gestalterische Lösungen wie das modular aufgebaute Kajak NATSEQ von Michael Müller aus den Jahren 2018/2019 oder die klappbaren slowenischen Skier Elan Voyager (2021), die auf den ersten Blick nach einem schweren Skiunfall aussehen. Dieser Bereich steht aber auch unter besonderer Beobachtung hinsichtlich der Nachhaltigkeit, der vor allem durch langlebige Produkte zur Müllvermeidung und Verbrauchernahe Produktionsstätten zur Minimierung der Transportwege Rechnung getragen werden soll. Trotz allem Bemühens, die beliebtesten Spots, zusätzlich gehypt durch Social Media Propaganda, ächzen unter der Last der Besuchermassen und entwickeln sich zum Problem für den Natur- und Umweltschutz. Will man diesem Massentourismus entgehen, so kann man dies – noch – mit einer Klettertour, wofür sich die Bergseile Mammut XM 9 und XSR 18 bzw. Edelweiß Extrem 9 empfehlen.

Kapitel 7:  Nach der Natur

Ein wichtiges gestalterisches Element ist die Farbgebung der Objekte, so auch für Otl Aicher, den Mitgründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung und lange Zeit prägendem deutschen Designer. Die Farben der oberbayerischen Landschaft dienten Aicher und Eberhard Stauß als Vorlage für die Entwicklung des Farbkonzepts des Münchner Flughafens. Dominant ist hier ein leuchtendes, helles Blau, das ‚Flughafenblau hell‘, das laut dem Designer Duo „in besonderer Weise das Licht- und Farbklima des bayerischen Alpenvorlandes und seines Föhnhimmels“ vermittelt. Das Farbkonzept scheint gelungen zu sein, das Münchner Drehkreuz wurde zum wiederholten Male auch 2021 zum „Best Airport in Europe“ durch das Londoner Luftfahrtforschungsinstituts Skytrax gekürt.

Die Neue Sammlung lädt mit ihrer aufwändigen Ausstellung nach Drinnen, um sich mit den gestalteten Objekten und unserem Verhalten Draußen kritisch auseinanderzusetzen und uns unserer Verantwortung für die Natur bewusst zu werden. Während der Zeiten von Homeoffice und Lockdowns erfuhren Parks und Wälder eine neue Wertschätzung, an die man sich im Kampf gegen die Erderwärmung erinnern möge.

Die Neue Sammlung – The Design Museum

Barer Straße 40

80333 München