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Auf Biegen und Brechen – 200 Jahre Thonet Möbel

Auf Biegen und Brechen

Ein Leben ohne Stühle? Arbeiten oder Feiern nur im Stehen oder Liegen? Undenkbar! So wenig unser Alltag ohne Stühle vorstellbar ist, so wenig ist auch die Geschichte der Stuhlentwicklung der letzten 200 Jahre ohne die Firma Thonet denkbar. Aus ihren Fabriken stammen Millionen unserer Sitzmöbel, zunächst über 100 Jahre aus gebogenem Holz und später aus gebogenem Stahlrohr. Thonet steht auch exemplarisch für den Übergang vom Handwerksbetrieb zur Fertigungsstätte in industriellem Maßstab. Thonet entwickelte neben neuartigen Vertriebskonzepten auch fortschrittliche Technologien, die die Firma von den namhaften Designern der Zeit in ansprechende Entwürfe umsetzen ließ. Das im Jahr 1925 gegründete Designmuseum Die Neue Sammlung erwarb bereits 1930 mit Marcel Breuers Stahlrohrhocker B9 ihr erstes Thonet Möbel, dem im Laufe der Jahrzehnte Hunderte folgen sollten. Beim Umzug des Museums in die Pinakothek der Moderne im Jahr 2002 konnte mit diesem Bestand ein ganzer Bereich der Dauerausstellung in Form eines antiken Amphitheaters den Thonetmöbeln gewidmet werden. Anlässlich des 200. Gründungsjubiläums würdigt die Neue Sammlung die Verdienste der Firma Thonet mit einer vom Münchner Designer Steffen Kehrle gestalteten Ausstellung, die von den frühen Exemplaren bis zu aktuellen Entwicklungen, wie dem für die Ausstellung von Steffen Kehrle entworfenen Sitzmöbel, reicht.

Firmengründer Michael Thonet und die Anfänge

Am 2. Juli 1796 brachte Margarethe Thonet, Ehefrau des Gerbers Franz Anton Thonet, im rheinischen Boppard ihr zweitältestes Kind Michael zur Welt, das sich nur 23 Jahre später mit einer eigenen Bau- und Möbeltischlerei selbständig machte. Diesen Betrieb entwickelte er im Laufe der folgenden Jahrzehnte zum bedeutendsten Produzenten von Möbeln aus gebogenem Holz. 1820 heiratete er die Bopparder Metzgerstochter Anna Maria Crass, mit der er 13 Kinder hatte, von denen aber acht ihren 1. Geburtstag nicht erlebten. Die fünf überlebenden Söhne sollten als Erwachsene die Firma des Vaters erfolgreich weiter führen und expandieren. Ab 1830 versuchte er sich mit dem Holzbiegen. Zunächst nicht mit Massivholz, sondern nur mit verleimtem Schichtholz, das mit dem später patentierten industriellen Biegeverfahren wenig gemein hatte. So weichte er die Furnierbündel zunächst in heißem Leim ein und bog sie anschließend in einer Holzform. Mit dieser Methode wurden Seitenteile und Stegleisten von Sitzmöbeln hergestellt, die Sitze blieben eben und wurden mit geflochtenen oder gepolsterten Einsätzen versehen. So entstand auch der circa 1838/40 hergestellte „Bopparder Stuhl“ aus schichtverleimtem Bugholz und Nussbaum, ein furnierter Biedermeierstuhl mit gepolsterter Sitzfläche.

Zwar konnte Michael Thonet 1841 sein Verfahren in Paris patentieren lassen, was aber keinen finanziellen Erfolg bedeutete, da zu wenig Interesse am Produkt bestand bzw. das Patent unsanktioniert missachtet wurde. Im Jahr 1841 soll es zu der Richtungsweisenden Begegnung zwischen  Michael Thonet und dem österreichischen Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) in Koblenz gekommen sein. Der Staatsmann fand Gefallen an Thonets Stühlen und ermutigte ihn zum Umzug nach Wien, der tatsächlich 1842 nach dem Aus der in finanzielle Schieflage geratenen Bopparder Firma erfolgte. Metternich stellte ihm seine Protektion bei Hofe in Aussicht und motivierte Thonet angeblich mit folgenden Worten: „In Boppard werden Sie immer ein armer Mann bleiben, gehen Sie nach Wien, ich werde Sie dort bei Hofe empfehlen.“

Trotz der Unterstützung Metternichs war Thonets beruflicher Start in Wien holprig. Die Berufskollegen der Wiener Tischlerzunft betrachteten den „Piefke“ aus dem preußischen Boppard als Ausländer.  Nach einer kurzen Anstellung bei Clemens List wurde Thonet 1843 für ein Projekt des englischen Architekten Peter Hubert Desvignes, die Sanierung der Innenausstattung eines der beiden Wiener Palais Liechtenstein, engagiert. Zwar hatte bereits der Wiener Holzfabrikant Carl Leistler (1805–1857) einen Exklusivvertrag, trotzdem konnte Desvignes mit viel Geschick die Mitarbeit Thonets erwirken. Thonet durfte so genannte „Beistellstühle“ beisteuern, sprich Notsitze, wenn die reguläre Bestuhlung, die von Carl Leistler stammte, nicht ausreichte. Desvignes, der mit großer Wahrscheinlichkeit die  „Liechtensteiner Stühle“ entworfen hatte, war sehr mit Thonets Realisierung zufrieden, für deren Formen Thonet in aller Eile neue Produktionsverfahren erarbeiten musste. Schnell sollten sich die Liechtensteiner erfolgreicher als die Bopparder entwickeln, waren aber durch das Schichtholzverfahren noch immer nicht für eine Produktion im industriellen Maßstab geeignet.

Entwicklung zum „Global Player“

Durch diese Erfolge ermutigt, wagte sich Thonet 1849 erneut in die Selbständigkeit und gründete wieder eine eigene Werkstätte. 1853 übertrug er diese in einem Gesellschaftsvertrag an seine Söhne als zukünftige Inhaber.

Noch während der Arbeiten für das Palais Liechtenstein erweiterte Thonet sein Sortiment in Hinblick auf die nahende erste Weltausstellung 1851 in London. So heißt es in dem Gedenkblatt von 1896: „[…] Zur Ausstellung gelangten: sechs Sessel, zwei Fauteuils und ein Canapee aus echtem Palisanderholz gebogen und mit Messingeinlagen verziert; zwei Tische, deren Platten mit Schildkröt-, Messing- und Perlmuttarbeiten eingelegt waren, ferner zwei Lesetische und zwei kleine Etagères von gleicher Ausführung, und mehrere andere […].“ Diese „Londoner Möbel“ fokussieren auf eine ausgewählte Käuferschaft und sind kunsthistorisch wertvoll, da sie den Höhepunkt von Thonets vorindustrieller Produktion darstellen. Die Form des Untergestells des großen der beiden Lesetische mit einem Tischplatten Durchmesser von 116cm findet sich später bei den ersten Serientischen industrieller Fertigung wieder. Gekürt wurden seine Vienna bentwood chairs mit einer Bronzemedaille, die ihm zu internationaler Bekanntheit verhalf. Gold ging allerdings an seinen Wiener Konkurrenten Carl Leistler, dessen traditionelle Möbel von der Jury mehr anerkannt wurden als die schwierige Herstellung und technische Neuerung der Thonetschen Exponate. Als eines der wenigen Unikate der Thonetschen Produktion zählen neben dem Bopparder Kanapee die Londoner Garnitur wie die in geringer Auflage gefertigten vereinfachten (Wiener) Bopparder Stühle und die Stühle für das Palais Pálffy in Sammlerkreisen zu den begehrtesten Objekten.

1855 erhielt er bei der Pariser Leistungsschau, der Weltausstellung 1855, eine Silbermedaille.

Koritschan

Kontinuierlich verbesserte Michael Thonet die Fertigungsprozesse und eröffnete 1856 auf österreichischem Staatsgebiet in Koritschan, Südostmähren, eine neue Fabrik, idealerweise inmitten weitläufiger Buchenwälder gelegen, seinem wichtigstem Rohstoff. Michael Thonet und seine Söhne wurden eingebürgert und erhielten per Dekret der niederösterreichischen Statthalterei vom 17. Juni 1856 unter der Nummer Z. 25.295 die österreichische Staatsbürgerschaft. In dem bereits genannten Gedenkblatt von 1896 ist die technische Neuerung des Massivholzbiegens, das zukunftsträchtige Verfahren, in Koritschan so beschrieben: „Am 10. Juli 1856 wurde der Firma Gebrüder Thonet ein Privilegium ertheilt: ‚Auf die Anfertigung von Sesseln und Tischfüssen aus gebogenem Holze, dessen Biegung durch Einwirkung von Wasserdämpfen oder siedenden Flüssigkeiten geschiet‘.“ Thonet musste jedoch schmerzhaft feststellen, dass sich die industrielle Fertigung in einer Fabrik grundlegend vom gewohnten kleinteiligen Werkstattbetrieb unterscheidet. Mit seinem fünfköpfigen Team wollte Thonet den Umzug von Wien möglichst ohne Produktionsunterbrechung bewältigen und dabei auch die in Wien von 1856 bis 1858 entwickelte Umstellung von Schichtholz- auf Massivholzbiegen unter Einwirkung von mechanischem Druck und heißem Dampf installieren. Ein großes Problem war vor allem der Mangel an ausgebildeten Fabrikarbeitern. Sein Personal hatte keine Erfahrung mit Maschinen, bestand teils aus Analphabeten und war noch vom bäuerlichen Tagesrhythmus bestimmt durch den Tagesanbruch getaktet. Dies führte anfangs zu zahlreichen Unfällen und einem massiven Qualitätseinbruch. Es sollte fast drei Jahre dauern bis die vormals als Wald- und Landarbeiter tätigen Mitarbeiter hinreichend ausgebildet waren. Zunächst fehlte jedoch weiterhin die heute so genannte mittlere Management Ebene.

Der industriellen Fertigung mit Massivholzbiegen mussten aber auch die Produkte gestalterisch angepasst werden. Anschaulich beschreibt das der Übergang von der klassischen Reihe I, der Fortsetzung der Liechtensteiner Stühle, zur klassischen Reihe II mit dem Stuhl Nr. 56, der im Jahr 1883 deren Anfang darstellte. Die technischen wie formgebenden Experimente wurden hauptsächlich vom mittleren Sohn August durchgeführt. Die produktionstechnischen Vorteile des Stuhls Nr. 56 waren die durch die Reduktion vom Dreidimensionalen auf die Ebene vereinfachte Biegetechnik, die nun an Maschinen von günstigeren angelernten Arbeitern durchgeführt wurde und die Materialersparnis. Ursprünglich benötigte man eine 230cm lange Holzlatte um das Element „Hinterbein-Rückenlehne-Hinterbein“ dreidimensional verformt herzustellen. Beim Stuhl Nr. 56 reduziert sich die maximale Länge der beiden zweidimensional gebogenen „Hinterbein-Rückenlehne“ Bauteile auf 90cm, entsprechend einfacher ist das ‚Handling‘ beim Transport in der Fabrik und bei der Bearbeitung während der Produktion. Das neue Verfahren bedeutete auch mehr Freiheiten im Design der Rückenlehne mit Varianten wie einem breiten Stück gebogenen Sperrholzes, zwei gebogenen schmalen Stücken oder später einem gebogenen Stück Massivholz.

Aber nicht nur die Fertigung, sondern auch die Logistik musste der industriellen Produktion adaptiert werden. Thonet führte für den Platzsparenden Transport die Lieferung in Einzelteile zerlegter Stühle ein.

Der 14er

Basierend auf der patentierten Bugholztechnik entwickelte Michael Thonet 1859 den legendären „Stuhl Nr. 14“ oder im aktuellen Werkverzeichnis nun Modell 214 genannt. Bis 1930 erreichte er die unglaubliche Auflage von 50 Millionen verkauften Exemplaren, der VW Käfer unter den Stühlen. Damit steht der weltweit meistverkaufte Stuhl als Synonym für den Kaffeehausstuhl schlechthin. Der Erfolg beruhte nicht nur auf der neuartigen Biegetechnik, sondern besonders auch auf dem Versand als Bausatz. Da die insgesamt nur sechs Holzteile des Stuhls nicht wie üblich verleimt, sondern verschraubt wurden, waren keine besonderen technischen Fähigkeiten erforderlich, um den Stuhl vor dem Verkauf in den Filialen zu montieren. Durch den zerlegten Versand reduzierte sich auch das Frachtvolumen drastisch. In einen Kubikmeter passten so die Einzelteile von insgesamt 36 demontierten 14ern. Jahrzehnte später half dieser Vorläufer des Do-It-Yourself Prinzips dem schwedischen Möbelriesen IKEA zum Aufstieg als globaler Billigeinrichter.

Künstlermodelle

Die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnende gestalterische Krise in Architektur, Interior Design und Kunsthandwerk wurde durch Künstler und Architekten des beginnenden Jugendstils überwunden. Adolf Loos zeichnete 1898 für die Einrichtung des Wiener Café Museum verantwortlich, wobei er die Bestuhlung selbst entwarf. Wegen patentgeschützter Elemente konnte Loos nicht wie geplant bei Thonet fertigen lassen, sondern musste sich an den Inhaber der Patente die Firma J. & J. Kohn wenden. Dort erkannte man ein Potenzial für von Künstlern entworfene innovative Salonmöbel und forcierte dieses Geschäftsfeld. Bei Thonet stand die Verkaufbarkeit neuer Möbel im Vordergrund, positive Kritiken der Kunstbeflissenen waren nachrangig, da nicht direkt Umsatz steigernd. Um den Publikumsgeschmack und damit die Verkaufbarkeit zu testen, wurden bei Thonet Prototypen in so günstig wie möglich gefertigten Testserien zur Markteinführung produziert. Der wirtschaftliche Erfolg gab Thonet Recht, die Verkaufszahlen der avantgardistischen Künstlermodelle der Konkurrenz sollten unterdurchschnittlich bleiben, was sie heutzutage allerdings in den Fokus der Sammler und Antiquitätenhändler rückt. Doch auch Thonet entzog sich nicht ganz dem Trend, ab 1904 finden sich Thonet Modelle von Otto Prutscher (1880–1949), Otto Wagner (1841–1918), Marcel Kammerer (1878–1959; ein Mitarbeiter Otto Wagners an der Postsparkasse), Leopold Bauer (1872–1938), Jan Kotěra (1871–1923) und den beiden deutschen Architekten Emanuel von Seidl (1856–1919) und Peter Behrens (1868–1940).

Umbrüche

Michael Thonet verstarb im Jahr 1871 und erlebte die Einführung der Klassischen Reihe II, die Künstlermodelle und vor allem die Expansion der Firma mit zwei Fabriken, in Nowo-Radomsk (heute Radomsko, Polen; 1880) und im hessischen Frankenberg (1890), nicht mehr mit. Aber mit dem von ihm geschaffenen Fundament konnten seine Söhne die erfolgreiche Entwicklung des Unternehmens weiter vorantreiben. Erst der Erste Weltkrieg führte zu größeren Verwerfungen, bei denen die Firmenstruktur geändert wurde. Um den Fortbestand zu sichern, fusionierte man zur Thonet-Mundus Holding mit dem aus Galizien stammenden Leopold Pilzer als geschäftstüchtigen Firmenchef. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Thonetfabrik in Frankenberg völlig zerstört, konnte aber bald danach wieder errichtet werden und produziert seit damals erfolgreich für den Weltmarkt.

Stahl verbindet – Thonet, die Moderne und das Bauhaus

Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zerfiel die Österreichisch-Ungarische Monarchie in mehrere neue Staaten. 100 Jahre nach ihrer Gründung fand sich die Firma Thonet mit ihren Produktionsstätten in durch Zollgrenzen getrennten Ländern wieder und musste sich neu organisieren. Organisieren musste im gleichen Jahr auch Walter Gropius im weit entfernten Weimar das Bauhaus, eine avantgardistische Kunstakademie, deren Streben einem menschenwürdigen Dasein aller Bevölkerungsschichten und einer fortschrittlichen Gestaltung galt. Außer dem jeweiligen Gründungsjahr ‚19‘ findet man zunächst wenig Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Institutionen. Aber wie Thonet im 19. Jahrhundert sich vom Handwerks- zum Industriebetrieb entwickelte, änderte Gropius sein ursprüngliches Leitmotiv von 1919 „Kunst und Handwerk – eine neue Einheit“ im Jahr 1922 zu „Kunst und Technik, eine neue Einheit“, womit er auf den Entwurf und die Entwicklung von Prototypen zur industriellen Serienfertigung zielte.

Thonet steckte wegen des erschwerten Kapital- und Warenflusses mitten in der Reorganisation und konnte sich erst 1924 durch die Fusion mit dem Konkurrenten Mundus wirtschaftlich stabilisieren. Nachdem die neuen Strukturen installiert waren, kamen die Stahlrohrmöbel der Moderne gerade zur rechten Zeit, um das Angebot von Thonet zu erweitern und zu modernisieren. Die neuartigen Möbel aus Metall waren ganz im Gegenteil zu ihren tradierten gusseisernen oder blechernen Vorgängern bequem, optisch und physisch leicht und obendrein elegant. Zwar haben sich die Freischwinger von Marcel Breuer, Mart Stam und Ludwig Mies van der Rohe als typische Bauhaus Erzeugnisse ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, tatsächlich wurden sie weder direkt am Bauhaus entworfen noch produziert. Lediglich die Entwerfer waren mit diesem fest verbunden und Bauhaus Architekten möblierten mit Stahlrohrmöbeln bevorzugt ihre Bauten. Breuer ließ seine Modelle zunächst in der Lehrwerkstatt der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke in Dessau fertigen, später in der eigenen Werkstatt der Standard Möbel in Berlin. Doch die Geschäfte liefen so schlecht, dass Breuer im Juli 1928 einen Vertrag mit Thonet schloss und gleich einige Entwürfe von hinterbeinlosen Stühlen, die späteren B 32, B 36 und B 33, bei Thonet einreichte. So kam es, dass bei Thonet nun nicht mehr nur Holz, sondern auch Stahlrohr gebogen und zu Möbeln verarbeitet wurde. Von den hölzernen Modellen wurden die Sitzflächen aus Geflecht oder verformtem Sperrholz übernommen, ergänzt durch neuartiges Eisengarn, das wiederum aus der Weberei des Bauhauses stammte. Eine naheliegende Erweiterung, sprechen beide doch durch ihre ästhetische Nähe die gleichen Käuferschichten an und sind beide durch ihre konstruktive Ähnlichkeit bestens für die industrielle Serienproduktion geeignet. In Frankenberg an der Eder wurde noch im Jahr 1928 mit der Vorbereitung der Produktion der stählernen Möbel begonnen, bereits im Januar 1929 wurde in der Zeitschrift „Innendekoration“ ein hölzerner Sessel von Adolf Schneck mit einem Stahlrohrtisch mit Glasplatte von Marcel Breuer (später B 18) beworben. Als am 11. April 1929 Standard Möbel in Konkurs ging, griff Thonet zu und erwarb den Betrieb mit den unverkauften Möbeln, und – am wertvollsten – mit den Entwurfsrechten an fast allen Modellen. Vier Freischwinger behielt sich der Geschäftsführer Anton Lorenz zurück, die er umgehend von Mart Stam patentieren ließ und konnte damit sowohl gegen Thonet als auch gegen Plagiatoren klagen.

Der Grundstein für ein umfassenderes Engagement bei Stahlrohrmöbeln war somit gelegt, an dessen Anfang im Jahr 1929 ein Faltblatt als Katalog steht. Im gleichen Jahr startete Thonet France die Herstellung von Stahlrohrmöbeln nach Entwürfen von Le Corbusier, Charlotte Perriand und André Lurçat. Der Einsatz der kühlen Möbel bei architektonischen Avantgarde Projekten wie der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung (1927) oder anderen Beispielen des Neuen Wohnens wie in Brünn (1928), Breslau (1929), Stockholm (1930), Berlin (1931) oder Wien (1932) sorgte für einen wachsenden Bekanntheitsgrad bei den fortschrittlich gesinnten Eliten. Die Mittelschicht wurde mehr durch Wohnzeitschriften an das Möbel heran geführt, wodurch letztendlich eine wachsende Nachfrage einsetzte.

Mit einem Sortiment bestehend Breuers Entwürfen als Basis und abgerundet durch die Beiträge der französischen Designer, zusammen mit der über 100-jährigen Erfahrung sowohl in der Möbelproduktion als auch in der Distribution mit einem funktionierenden internationalen Vertriebsnetz, war Thonet in Europa konkurrenzlos. Überschattet wurde dies von der aufkommenden Weltwirtschaftskrise und Patentstreitigkeiten, die Mitte der 1930er Jahre durch die Übernahme der Firma DESTA von Anton Lorenz geklärt werden konnten. Das Modellangebot erweiterte sich damit ebenso wie durch die Zusammenarbeit mit Mies van der Rohe ab 1931. Dem bürgerlichen Verlangen nach Bequemlichkeit wurde bei den Polsterfauteuils der K-Reihe (so genannt nach dem Polsterlieferanten Polstermöbelfabrik Walter Knoll & Co. in Stuttgart- Feuerbach) die ursprüngliche Leichtigkeit geopfert. All dies führte dazu, dass Thonet 1935 in dem deutsch-französischen Gemeinschaftskatalog 148 Modelle präsentieren konnte und sich die Geschäfte bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs prächtig entwickelten. 1942 musste die Produktion eingestellt werden, da Stahl als kriegswichtiger Rohstoff anderweitig verwendet wurde.

Wiederaufbau nach 1945

1945 war die Fabrik in Frankenberg wie große Teile Deutschlands zerstört. Der Eiserne Vorhang trennte Thonet von seinen Besitztümern, den Fabriken und Wälder im östlichen Mitteleuropa. 1939 hatten sich die deutsche und die österreichische Thonet-Firma mit einem Aktientausch vom Mundus-Konzern abgespalten, so dass nun die Familie Thonet auf sich allein gestellt den Wiederaufbau bewerkstelligen musste. Ab 1948 fertigte man in Düsseldorf, von dort zog man 1954 wieder nach Frankenberg zurück. Auch nach dem Krieg setzten sich die Patentstreitigkeiten um die „cash-cow“ Kragstuhl fort, 1949 sprach ein Vergleich der Firma Mauser das Ausland zu, Thonet bekam Deutschland. Ein abgespecktes Angebot konzentrierte sich auf die Vorkriegs-Erfolgsmodelle wie den B 64 mit Armlehnen sowie Sitz und Rückenlehne aus Bugholzrahmen mit Rohrgeflecht, der 1950 für das Bundeshaus in Bonn angeschafft wurde. Gebremst wurde der Stahlrohrmöbel Absatz durch das neue Midcentury Design namhafter Designer wie Harry Bertoia (1915–1978) und Charles und Ray Eames (1907–1978; 1912–1988) und ihren Drahtstühlen. Als Folge dieses Zeitgeistes wurden Anfang der 1960er Jahre nur noch zwei Vorkriegsmodelle angeboten. Die Wende kam 1963 mit dem Italiener Dino Gavina, der Breuers Clubsessel B 3 neu auflegte, aber als Luxusobjekt mit eingraviertem Autogramm von Breuer und unter dem Namen „Wassily Chair“ vermarktete, benannt nach dem Bauhaus Lehrer Wassily Kandinsky, in dessen Dessauer Wohnraum der Sessel bereits 1926 glänzte. Der „Wassily Chair“ war damit einer der Designklassiker, die seit damals noch heute das Interesse an Stahlrohrmöbel befeuern. In der Folge stiegen die Absatzzahlen von Thonet wie auch von der Firma Mauser.

Wenngleich in der Zwischenkriegszeit eine Vielzahl von Firmen Stahlrohrmöbel produzierte, so war es doch die Firma Thonet, die entscheidend für die Entwicklung, Verbreitung und den Erfolg des Stahlrohrmöbels sein sollte.

Thonet in der Neuen Sammlung

Als eines der Dienstältesten Designmuseen der Welt blickt die Neue Sammlung stolz auf ihre umfassende Kollektion an Thonet Möbeln, die den ebenfalls üppigen Beständen des MAK – Museum für angewandte Kunst Wien – und des Hofmobiliendepots in Wien sowie des Museums Boppard und des Koblenzer Landesmuseums ebenbürtig ist. Über die größte Sammlung verfügt das Firmenmuseum Thonets in Frankenberg mit rund 900 Stück.

In der Münchner Sammlung sind die älteren Möbel aus gebogenem Holz wie der frühe Bopparder Stuhl (1838–40) zahlenmäßig stärker präsent als die stählernen Vertreter der Moderne des 20. Jahrhunderts. Auch neueste Entwürfe, wie Sebastian Herkners Modell Nr. 118 aus dem Jahr 2018, schreiben die Sammlung fort und erinnern an die Tatsache, dass sich der Möbelbauer auch nach 1945 und bis heute der Entwicklung innovativer Sitzmöbel verpflichtet hat.

Die unterschiedlichen Sammlungsstrategien der Direktoren des nun auch schon fast 100 Jahre bestehenden Museums hinterließen deutliche Spuren in den Thonet Beständen des Museums. Schon 1930, fünf Jahre nach der Gründung des Museums im Jahr 1925, erwarb der Direktor Wolfgang von Wersin das erste Möbelstück von Thonet für das Museum: Marcel Breuers Stahlrohrhocker B 9, gefertigt von Thonet-Mundus in Berlin. Erworben wurde der B 9 mit einem Konvolut an Bugholzmöbeln für die Ausstellung „Der billige Gegenstand“ (1930). Ihm folgte als eines der ersten Bugholzmöbel 1931 der Sessel Nr. 6009 bzw. B 9, produziert ab 1904 und bekannt geworden durch Le Corbusiers vielfache Verwendung bei dessen Projekten. Aber erst ab 1958 beschäftigte sich Die Neue Sammlung mit den klassischen Bugholzstühlen des 19. Jahrhunderts und kaufte z.B. das berühmte Modell Nr. 14, den millionenfachen Bestseller und Klassiker der Kaffeehaus Bestuhlung. Weitere Erwerbungen in den 1970er Jahren bestätigen das Interesse an der Vielfalt der Bugholzentwürfe, vom einfachen Stuhl über den Schaukelstuhl bis zu Klapp- und Drehstühlen, Kindermöbeln und Bänken. Dass Die Neue Sammlung erst nach Jahrzehnten mit dem Sammeln historischer Bugholzmöbel des 19. Jahrhunderts begann, liegt am anfänglichen Bestreben zeitgenössisches Neuartiges zu dokumentieren. Das heißt, anfangs kaufte man auf Leistungsschauen wie den Weltausstellungen oder Möbelmessen ein, ab den 1960er Jahren mehr im Antikhandel oder hoffte auf großzügige Donationen. Die Devise lautete „Zurück zu den Wurzeln“, womit man die Ursprünge der zeitgenössischen Erzeugnisse bewerten und sichern konnte. Zunächst legte man noch wenig Wert darauf historische Originale zu erhalten, sondern begnügte sich mit zeitgenössischen Auflagen. Diese geben zwar die Form wieder, es fehlen aber technische und konstruktive Details, die vielfach im Laufe der Jahrzehnte zum Beispiel aus Kostengründen wegfielen. Erst seit den 1980er Jahren und besonders unter dem letzten Direktor Professor Florian Hufnagl erwarb man Objekte aus ihrer Entstehungszeit. Wichtige Einzelstücke wie Otto Wagners Schreibtisch für die Wiener Postsparkasse mitsamt dem kubischen Hocker veredeln die Sammlung seit den 1990er Jahren. Ein großer Coup gelang 2002 mit dem Erwerb der in den 1970er Jahren begonnenen Sammlung Peter Ellenberg. Über die Jahrzehnte hat der Architekt eine umfassende Thonet-Sammlung geschaffen, vom Bopparder Stuhl bis zu den Modellen des frühen 20. Jahrhunderts. Es finden sich identische Modelle verschiedenen Alters, in denen sich die produktionstechnische Entwicklung abbildet. Neben den Möbeln erwarb das Museum einen Schatz historischer Kataloge und Dokumente wie rund 200 Briefe von Franz Thonet (1820–1898), dem ältesten der Kinder Michael Thonets. Die Unterlagen aus der Frühzeit der Firma helfen bei der Erforschung der technischen Entwicklung und des internationalen Vertriebs. Sie flankieren die Bemühungen des Sammlers Ellenberg, mit seinen Sammlungsobjekten die technologischen Entwicklungen, Produktionsverbesserungen und Modelloptimierungen darzustellen, die Grundvoraussetzung für die Expansion Thonets waren.

Die knapp 300 Bugholzobjekte in der Neuen Sammlung erzählen bildhaft die Geschichte der Firma Thonet bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei auch der Blick auf die Konkurrenz nicht fehlt. Rund 40 Möbel von Jacob & Josef Kohn sowie eine kleinere Anzahl an Bugholzmöbeln anderer Hersteller wie D. G. Fischl, Julius Fürfang, Eleonore Kadeder oder Josef Neyger erlauben einen Vergleich mit den Thonet Produkten.

Der Bereich der Stahlrohrmöbel Thonets aus den 1920er- und 1930er-Jahren ist mit rund 30 Stück dagegen auch deshalb etwas unterrepräsentiert, da man eigentlich an den Stahlrohr-Produkten der ursprünglichen Hersteller, also Standard Möbel oder Joseph Müller bzw. Bamberg-Werkstätten interessiert war. Gleiches gilt für die Zeit nach 1945, wobei sich hier Highlights wie der 1956 entworfene Freischwinger von Verner Panton (produziert ab 1965), der 1953 von Karl Schwanzer gestaltete Stapelstuhl S 764 oder der Mitte der 1950er Jahre entstandene Sessel ST 664 von Edelhard Harlis finden. In den 1980er Jahren besann sich das Museum wieder auf seine Ankaufspolitik der Anfangsjahre und sammelte vermehrt zeitgenössische Entwürfe. Beispiele hierfür sind Stapelstuhl S 320 von Ulrich Böhme und Wulf Schneider, die Schaukelstuhlliege „Stilleben“, Nr. S 828 von Torben Skov, der Armlehnstuhl A 109F für den Deutschen Bundestag von Norman Foster, die Stahlrohrmöbel von Konstantin Grcic für Muji oder die Stühle von James Irvine und Stefan Diez.

So blickt Die Neue Sammlung stolz auf eine rund 400 Möbel und Objekte von Thonet umfassende Kollektion, die die Bedeutung und die gestalterische Vielfalt dieses außergewöhnlichen Möbelproduzenten von ganz frühen Meilensteinen wie den Bopparder Stuhl bis hin zu den aktuellen Entwicklungen beim Besuch dieses „Stuhlkreises“ erlebbar machen.