RADIO SEHEN – Faszination in Form und Farbe!
Es gab eine Zeit, da genügte es den Herstellern nicht Radios als schwarze, quaderförmige Schachteln zu produzieren, die sich nur mehr durch das Logo der jeweiligen Firma unterscheiden lassen. Gemeint ist die Zeit der Dreißiger bis Fünfziger Jahre, der Ort der Handlung sind die zur größten Wirtschaftsmacht der Welt aufstrebenden Vereinigten Staaten von Amerika. Damals mussten sich die Entwerfer nicht dem Diktat der billigsten Produktion und der optimalen Stapelbarkeit für die Distribution der Geräte unterwerfen, sondern konnten Ihre Ideen von Kitsch (z.B. 1938 „Snow White“ Radio (Schneewittchen und die 7 Zwerge) von Emerson) bis Kunst verwirklichen. Oft standen bei der Gestaltung auch Objekte des modernen Industriezeitalters Pate. Der Staubsauger war Vorbild für das 1938 von Silvertone produzierte Modell 6110 (Design: Clarence Karstadt; Bild 1), der Kühlschrank für das Modell H124 von Westinghouse („Little Jewel“; Bild 2), der Bildschirm früher Fernsehgeräte für den Coronado 43-8190 von 1947 (Bild 3) und ab 1950 häufig das Automobil für verschiedene Hersteller wie z.B. Crosley mit seinem Modell 10-135 (Bild 4) von 1950 oder Emerson mit dem Modell 744-B (Bild 5) von 1954.
Betrachtet man die Evolution der Radioapparate, so sieht man zu Beginn des Rundfunks um 1920 einzelne Baugruppen (Antennen, Empfänger, Lautsprecher), die getrennt in der „guten Stube“ Platz finden mussten. Gegen Ende der Zwanziger Jahre war man bestrebt die Module in ein Gehäuse zu integrieren. Als Gehäusematerial diente anfangs ausschliesslich Holz, das teilweise in intensiver kunsthandwerklicher Arbeit für teuerste Radios bearbeitet und verziert wurde.
Anfang der Dreißiger Jahre eröffneten die Kunststoffe, die zwar schon seit etlichen Jahrzehnten für die Produktion von industriell gefertigter Massenware (Haushalts- und Toilettenartikel, Modeschmuck, etc.) genutzt wurden, den Entwerfern völlig neue Spielmöglichkeiten. Ihr Einsatz für Radiogehäuse wurde erst jetzt möglich und in Betracht gezogen, da die technische Entwicklung die Geräte klein genug werden ließ, bei gleichzeitig geringerer Leistungsaufnahme der Röhren und dadurch auch Wärmeabgabe. Bakelit (Gruppe der Phenoplaste) – nach seinem belgischen Erfinder Leo H. Baekeland – hieß das Material, mit dem sich nahezu beliebige Formen realisieren ließen, bei gleichzeitig billiger Massenproduktion. Als Beispiele seien hier der deutsche „Volksempfänger“ VE301 von 1933 (Entwurf: Walter Maria Kersting) und der englische „Round“ EKCO AD65 von 1934 (Entwurf: Wells Coates) genannt. Mit diesen beiden Geräten sind die nennenswerten Radios, die die Entwicklung in Europa in der genannten Zeit zwischen 1930 und 1950 charakterisieren, auch schon aufgezählt. Im wesentlichen beschränkte man sich in Europa – bis auf wenige Ausnahmen – mit einem Ersatz des Materials „Holz“ durch den neuen Kunststoff, ohne die neu gewonnenen Möglichkeiten der Formgebung auszunutzen. Die klassische Linie wurde fortgesetzt, lediglich der Preis konnte so reduziert werden, daß z.B. in Deutschland knapp 7 Mio. „Volksempfänger“ von 1933 bis 1943 verkauft werden konnten.
Anders in den USA. Hier erfreute sich noch ein zweiter Kunststoff – das Catalin ( Gruppe der Aminoplaste) – in den Dreißigern und Vierzigern großer Beliebtheit bei den Radio Designern (Bild 6 und Bild 7). Neben der Freiheit bei der Formgebung konnten mit diesem Material auch alle Farben in extremer Leuchtkraft und mit Oberflächeneffekten, die sie wie Marmor, Alabaster oder Onyx aussehen ließen, hergestellt werden. Bunte Bakelitgehäuse erhält man – mit Ausnahme von dunklem Rot bzw. Grün neben Braun – nur durch nachträgliches Lackieren. Catalin wird bereits farbig verarbeitet, d.h. die Catalinrohlinge werden im gewünschten Farbton in die Form gegossen, das Gehäusematerial ist „durchgefärbt“. Mit „Gießen“ ist auch schon der wesentliche Unterschied bei der Herstellung zum Bakelit angesprochen. Bakelit wird in teueren Stahlformen bei hohem Druck und hoher Temperatur gepreßt und ist anschließend sofort fertig. Catalingehäuse entstehen durch den Guß in eine billige Bleiform und anschließendes tagelanges Aushärten bei ca. 80oC. Schließlich erfordert das Catalin noch ein Oberflächenfinish, bei dem die Gehäuse geschliffen, gewachst und poliert werden. Dies verteuerte die Catalinradios gegenüber technisch gleichwertigen Bakelitgeräten bis zum 6fachen Preis letzterer. Aber die Mühe lohnte sich. Um das zu verstehen muß man einmal ein Catalinradio „angefaßt“ haben.
Ein damals nicht beabsichtigter Effekt tritt im Laufe der Jahre bzw. Jahrzehnte ein; die ursprüngliche Gehäusefarbe verändert sich durch die UV-Strahlung. So wurde beobachtet, daß aus ursprünglich blauen Gehäusen grüne wurden. Da diese photochemischen Prozesse nur in der oberen Schicht des Gehäuses ablaufen, kann man – bei Nicht-Gefallen der „neuen“ Farbe – durch einfaches Polieren die ursprüngliche Farbe wieder erhalten.
Catalin Radios gab es nur während einer kurzen Zeitspanne ab 1935, wobei sie erst ab ca. 1938 wirtschaftliche Bedeutung erlangten. Mit dem Eintritt der USA in den 2.Weltkrieg 1941 wurde die zivile Radioproduktion eingestellt. Nach 1945 wurden neben neuen Modellen auch einige Vorkriegsmodelle (z.B. Fada Modell 115 von 1941 wird Fada Modell 1000 von 1946) mit kleinen Veränderungen wieder neu aufgelegt, aber ab 1948 – mit dem Aufkommen neuer, billigerer Plastikwerkstoffe – wurden keine Catalinradios mehr produziert. Der Grund dafür, daß in Europa keine Catalinradios produziert wurden mag sein, daß hier in den 30ern und 40ern noch kein Markt für bunte, freche Radios war, und daß sich dann in den 50ern ebenso wie in den USA billigere Plastikarten durchsetzten.
Daß die Farbgestaltung eine wichtige Rolle spielte, mag mit dem Ende der 20er Jahre ausgegebenen und bis Anfang der 40er Jahre propagierten Werbeslogan „A radio for every room“ zusammenhängen. Wollte man ein Radio in jedes Zimmer verkaufen, so hatte sich dieses dem vorhandenen Mobiliar anzupassen. So trifft man häufig bei ein und demselben Modell viele Farben (z.B. 8 Farben beim Crosley 11-100 von 1951; Bild 8) oder Farbkombinationen (z.B. 11 verschiedene Kombinationen beim Addison A2A von 1940) an.
Das freie Spiel von Form und Farbe, das in den USA vollends ausgelebt wurde, erhielt dann doch noch einen wesentlichen gestalterischer Einfluß aus Europa. Gegenüber dem alten Kontinent erlebten die USA ein verspätetes ART DECO. Dies schlug sich vom „billigen“ Bakelit Radio Zenith 6D315 (Bild 9) aus dem Jahr 1938, über die Catalin Radios bis hin zu den heute extrem seltenen Spiegelradios der Firma Sparton nieder. Sparton verkleidete Holzgehäuse mit blauen, grünen oder rose Spiegeln und Chrom-Zierleisten. Für die Modelle 506 („Blue-bird“), 517 von 1936 (Bild 10) und 1186 („Nocturne“; runde Spiegelscheibe mit ca. 1m (!) Durchmesser; z.Zt. ca. 30000 US $) bemühte Sparton den Designer Walter Dorwin Teague.
Das bereits erwähnte Silvertone Modell 6110 (Bild 1) mit seinem stromlinienförmigen Erscheinungsbild gilt dagegen als typischer Vertreter des amerikanischen „machine-age“ Designs.
Ein weiteres bemerkenswertes Sammlerstück ist der „Radio Glo“ von ca. 1935 (Bild 11), der aus bunten Glasplättchen (bekannte Kombinationen: grün/weiß, gelb/blau, gelb/rot) und Chromleisten zusammengesetzt ist. Er beinhaltet zwei separate Lichtquellen, wobei die eine nur zusammen mit dem Radio eingeschaltet wird, die andere läßt ihn unabhängig vom Radio eine Funktion als Lampe erfüllen.
Für die in den USA häufig anzutreffenden Motels wurde ein besonderes Münzradio entwickelt, das wiederum den Ideenreichtum verdeutlicht. Der Dahlberg 49-6 „pillow speaker radio“ von 1954 (Bild 12) hat keinen Lautsprecher im Gehäuse, sondern lediglich an einem Kabel eine Art Brausekopf, der unter das Kopfkissen (pillow) geschoben wird. Damit kann man sich ohne Störung anderer Gäste in den Schlaf spielen lassen. Den kommerziellen Interessen der Motelbesitzer wird genüge getan, indem das Gerät an der Oberseite einen Münzeinwurf aufweist. An der Unterseite befindet sich die auf den Kopf gestellte Skala (!), da der Benutzer im Bett liegt und nach hinten oben sehen muß um den gewünschten Sender einzustellen.
Interessante Formen weisen auch die Bakelitradios von Crosley (Bild 13), Philco („Boomerang“ Bild 14) und Northern Electric (Bild 15) auf.
Wegen der Massenherstellung konnten die Plastikradios in großen Stückzahlen billig hergestellt werden. Da die technische Entwicklung der Geräte noch laufenden, merklichen Verbesserungen unterworfen war, vollzog sich ein rascher Modellwechsel, der zugleich noch verkaufsfördernd sein sollte (Vorbild hierfür war die Automobilindustrie). Die billigen Plastikradios wurden damals wenig beachtet und fanden meist nach kurzer Lebensdauer ein jähes Ende im Müll. Nur die wenigen, die in Kellern oder Speichern die „Hungerjahre“ überdauerten, erfreuen uns heute wieder durch ihr ausgefallenes Erscheinungsbild.
Wegen ihrer Schönheit und Seltenheit sind aus den damaligen „Billigradios“ heute weltweit begehrte Sammlerobjekte geworden. Der Wert der Plastikradios liegt zur Zeit zwischen einigen hundert DM für Bakelitradios und einigen tausend DM für Catalin- und Spiegelradios. Besonders die Catalin- und Spiegelradios haben in den letzten 10 Jahren einen enormen Preisauftrieb erfahren.
Als preiswerter Einstieg in die Thematik bietet sich der Erwerb der beiden Bücher von Philip Collins („Radios – The Golden Age“; „Radios Redux – Listening in Style“) und des auf Catalinradios spezialisierten Werkes von John Sideli („Classic Plastic Radios of the 1930s and 1940s“) an.